Essen. Der Verlobte einer jungen Frau sitzt im Gefängnis. Seit Beginn der Corona-Krise hat sie ihn nicht mehr umarmen dürfen. Beide leiden darunter.

Es ist fast ein halbes Jahr her, als Martina Lange ihren Verlobten zuletzt in den Arm nehmen konnte. Seitdem hat sie zwar immer wieder mit ihm gesprochen, telefonisch und über die Videoplattform Skype. Aber das kann nicht das Gefühl ersetzen, ihn zu küssen, ihn zu halten. Ihr Verlobter sitzt im Gefängnis, und es ist, als hätte Corona noch eine weitere Mauer zwischen sie und Ali gezogen.

Als Deutschland sich im März einsperrte, um die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen, wurden auch die 36 Haftanstalten in NRW für Besuche von außen rigoros dicht gemacht. Eine Infektionswelle in einem geschlossenen System wie einem Gefängnis hätte katastrophale Folgen haben können.

Besuchsverbot ab dem 17. März

Das Besuchsverbot für die Gefängnisse galt ab dem 17. März. An diesem Tag wollte Martina Lange sich wieder auf den Weg von Darmstadt nach Rheinbach nahe Bonn machen, um Ali zu besuchen, so wie sie es alle zwei Wochen seit dem Sommer vergangenen Jahres getan hatte, mal mit der Mutter ihres Verlobten, mal mit seinem Bruder oder seiner Schwester.

„Ich habe einen Tag vorher angerufen und gefragt, ob das noch geht, da haben sie mir gesagt, dass alles normal ist. Eine Stunde später rufen sie zurück und sagen mir, dass nichts mehr geht“, erzählt die junge Frau mit den langen brünetten Haaren im Skype-Interview.

Corona-Krise: Gefangene hatten Verständnis für Maßnahmen

Martina Lange, die nicht wirklich so heißt, aber ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, ist 23, ihre Beziehung mit Ali dauert jetzt schon fünfeinhalb Jahre. Ali ist der Spitzname ihres Verlobten. Er war und ist die große Liebe, sagt sie, „er ist ein herzensguter Mensch“. Ali wird bald 30, er ist irgendwann auf eine extrem schiefe Bahn gekommen, da will sie nichts beschönigen. „Man sitzt ja nicht umsonst im Gefängnis.“ Ihr Verlobter sitzt wegen Drogengeschäften.

Die beiden telefonierten am gleichen Tag noch miteinander. „Er hat gesagt, es ist vielleicht das Richtige, weil das Virus ja gefährlich ist, aber wir waren beide schon sehr traurig.“ Das Verständnis der Häftlinge für die Corona-Beschränkungen war in allen NRW-Gefängnissen vergleichsweise groß.

Eine quälende Zeit beginnt

Anders als etwa in Italien, wo es Anfang März zu Aufständen in Dutzenden Haftanstalten kam, blieb die Lage in NRW ruhig. Auch in Rheinbach, dem Gefängnis, das 1990 Schauplatz einer aufsehenerregenden Meuterei wurde, die erst nach vier Tagen durch Spezialeinsatzkommandos niedergeschlagen werden konnte.

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Für Martina Lange und Ali begann eine quälende Zeit. „Wir hatten gehofft, dass das schnell vorbei geht, aber jetzt sind es schon über fünf Monate.“ Sie schreibt ihm, jeden Tag zwei Seiten. Zweimal im Monat können sie sich wenigstens sehen, dann telefonieren sie über Skype miteinander. „Aber es ist für die Psyche schlimm, wenn man einen geliebten Menschen sieht, aber nicht anfassen darf“, sagt sie.

Angehörige rufen bei Beratungsstelle an

Dass die Einschränkungen für Inhaftierte und ihre Angehörigen extrem belastend waren, berichtet auch Stephan Kobabe von der AWO-Beratungsstelle für Inhaftierte, Haftentlassene und ihre Angehörigen in Hagen. „Wir haben viele Anrufe von Angehörigen bekommen, die gefragt haben, was sie tun können. Die meisten haben Verständnis für die Maßnahmen gehabt, aber es hat ihnen auch sehr wehgetan.“

Ihr Verlobter, erzählt Martina Lange, schlafe nicht mehr gut, er habe Herzrasen. „Es geht ihm nicht gut, aber er ist ja ein Mann, und er will keine Schwäche zeigen.“ Sie selbst leidet auch unter Schlafstörungen, unter Migräne-Anfällen und Sehstörungen, sagt sie. „Seine Mama ist nur am Weinen, das ist für die ganze Familie total grausam.“

Die Ungewissheit macht mürbe

Eigentlich könnte sie Ali jetzt besuchen, seit Ende Juni gibt es in den Gefängnissen Lockerungen. Ein Besucher darf kommen, aber es gilt striktes Kontaktverbot und Maskenpflicht, in Rheinbach werde man durch eine Glasscheibe getrennt. „Das wäre noch schlimmer für uns“, klagt Lange.

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Es ist auch die Ungewissheit, die sie mürbe macht. „Erst hieß es, wenn die Schulen aufmachen, würde alles wie früher sein, dann, wenn die Leute wieder in Urlaub fahren dürfen. Jetzt haben sie gesagt, dass es erst wieder normal wird, wenn ein Impfstoff gefunden ist.“

Auch die Berater haben Probleme

Die Corona-Einschränkungen sind auch für die Berater der AWO ein großes Problem. Sie bereiten Inhaftierte im Gefängnis auf die Entlassung vor. „Wenn man durch eine Scheibe über eine Sprechanlage kommuniziert, kann man kein Vertrauensverhältnis aufbauen“, sagt Stephan Kobabe. Zudem es generell erheblich schwieriger, überhaupt Gesprächstermine zu bekommen.

Für Ali liegt die Haftentlassung allerdings ohnehin noch in weiter Ferne. Er ist zu acht Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Vielleicht, schlägt Martina Lange vor, könne man Körperkontakt nach einem negativen Corona-Test zulassen. „Es wäre Gold, wenn ich ihn umarmen könnte.“

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In NRW sitzen (Stand Ende Juni) rund 13.650 Gefangene in den Haftanstalten. Das sind rund 2000 weniger als vor einem Jahr. Mit Beginn der Corona-Krise erhielten über 1000 Gefangene eine Strafhaftunterbrechung. Zu einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr verurteilte Straftäter und Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten sollen, mussten nicht ins Gefängnis. Seit dem 1. Juli werden sie wieder geladen. Bislang sind elf Gefangene in NRW positiv auf Corona getestet worden, aktuell gibt es keinen Fall.