An Rhein und Ruhr. Senioren fühlen sich zunehmend isoliert. Daher fordert der Sozialverband VdK eine Zwischenbilanz, um früh Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen.
Mit Blick auf Zahlen und Maßnahmen in der Corona-Krise attestiert der Sozialverband VdK in NRW der Bundes- und der Landesregierung zwar prinzipiell gute Arbeit, warnt aber gleichzeitig: „Wir brauchen ein Zwischenfazit, eine Sozialbilanz zur Corona-Pandemie“, so VdK-Landesvorsitzender Horst Vöge. Die Forderung richtet sich in erster Linie an Kreise und kreisfreie Städte im Land, die so die sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie vor Ort sichtbar machen sollen, um Lösungen für eine bessere Bewältigung der Krise finden zu können. Der VdK selbst hat Hinweise darauf, dass neben medizinischen Fragen auch gesellschaftliche Aspekte wichtig sind.
Der Verband, der in NRW rund 370.000 Mitglieder vertritt, richtet sein Augenmerk vor allem auf ältere Mitbürger. „Wir sind eine Single-Gesellschaft, und das setzt sich im Alter fort“, sagt Horst Vöge. In Deutschland leben rund 40 Prozent der Menschen über 65 Jahren in Einpersonen-Haushalten, mit zunehmendem Alter steigt naturgemäß der Anteil – auf bis zu zwei Drittel bei Menschen über 85 Jahre.
Viele drohen auf Dauer zu vereinsamen
Hinzu kommt: Die Gesellschaft ist immer mobiler geworden, die Kinder leben häufig nicht am gleichen Ort, wie die Eltern. Heißt: In den zurückliegenden Monaten fehlte vielen Senioren angesichts der Corona-Maßnahmen über materielle und pflegerische Hilfe hinaus oft der soziale Kontakt – zu Verwandten, Nachbarn, zur Friseurin, zum Altenpfleger, zum Verkäufer. Vom Einkaufen wurde abgeraten, von unnötigen Erledigungen und Besuchen sowieso. Ältere, die erstens häufiger zur Risiko-Gruppe gehören und zweitens nicht mobil sind, trifft Corona hier besonders hart. Viele fühlten sich da in den eigenen vier Wänden allein und isoliert, drohen auf Dauer zu vereinsamen.
Schon vor der Corona-Krise mit ihren Kontakt-Beschränkungen haben Forscher vor den Auswirkungen von Einsamkeit gewarnt. Soziale Isolation kann krank machen „Einsamkeit ist ein Gesundheitsrisiko wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Übergewicht“, so die Bochumer Einsamkeitsforscherin Susanne Bücker. Wer vereinsamt lebt, kann an Herz-Kreislauf-Problemen erkranken, an Demenz oder Angststörungen.
Dass die Einsamkeit speziell für ältere Menschen in der Corona-Krise zu einem drängenderen Problem geworden ist, dafür gibt es Anzeichen: Beim VdK schnellt die Zahl der telefonischen Kontakte zu Beratungsangeboten in die Höhe. „Oft sind Fragen nach einer Versicherung oder ähnlichem nur der Einstieg, die Leute wollen sich einfach mal unterhalten“, berichtet Vöge. Im vergangenen Jahr zählte der VdK in NRW rund 11.000 Telefonkontakte, in diesem Jahr rechnet er aktuell mit etwa 15.000 Anrufen. „Und die Gespräche sind spürbar länger geworden“, betont Vöge.
Telefonberatung jetzt auch am Nachmittag
Deshalb bietet der Sozialverband die telefonische Beratung, die es sonst nur vormittags gab, jetzt auch am Nachmittag an. Zwar hat auch der VdK in den vergangenen Monaten elektronische Angebote wie Telefonkontakte oder Videoseminare etabliert und ausgeweitet, dennoch: „Solche Angebote helfen sehr gut, aber die Digitalisierung kann mittelfristig den persönlichen Kontakt nicht ersetzen“, sagt der VdK-Vorsitzende. Zudem: Nur jeder fünfte Senior über 85 hat überhaupt einen Internetanschluss.
Eine ähnliche Diagnose stellt Elke Schilling, Initiatorin der Senioren-Hotline „Silbernetz“, einer Art Telefonseelsorge für ältere Menschen. Das Anrufaufkommen habe sich vervielfacht. Bemerkenswert sei, dass nun auch erheblich mehr Männer anriefen: „Das Thema Einsamkeit ist auch öffentlich verhandelbar geworden.“ Speziell ältere Menschen, die in Pflegeheimen lebten, hätten in den vergangenen Monaten den Silbernetz-Mitarbeitern ihr Leid geklagt, häufig hätten sie ihre Angehörigen seit gefühlten Ewigkeiten nicht gesehen. „Viele sehen null Zukunft. Zweimal die Woche werden uns Suizidabsichten geschildert.“ Ein älterer Mann habe gesagt: „Wenn ich mich entscheiden müsste, an Corona oder an Vereinsamung zu sterben, dann würde ich mich für das Erstere entscheiden.“
Tickets kann man derzeit nur online bestellen – ein Problem für Ältere
Auch nach den Lockerungen halte der Gesprächsbedarf an, so Elke Schilling. „Vieles ist derzeit nur online zu regeln, zum Beispiel das Bestellen von Tickets. Da fühlen sich manche ältere Menschen zum zweiten Mal isoliert.“
Die vom VdK geforderte Sozialbilanz müsse demnach soziale und gesellschaftliche Fragen erörtern. Wer vereinsamt, hat keine Kontakte mehr, benötigt Hilfe? Und wo? Welche Nachbarschaftshilfen und Netzwerke haben sich möglicherweise während der Corona-Pandemie gegründet und müssten erhalten bleiben? Welche neuen Angebote müssen geschaffen werden, um das Miteinander für alle Teile der Gesellschaft zu verbessern – nicht nur in Krisenzeiten? Und: Sind durch die strukturellen Veränderungen während der Corona-Pandemie neue Benachteiligungen für Ältere, Pflegebedürftige oder Menschen mit Behinderungen entstanden – und wie können wir diese korrigieren? Antworten auf diese und weitere Fragen müssen laut VdK auf kommunaler Ebene gegeben werden, weil spezifische Problemlagen und Gegebenheiten ebenfalls spezifische Lösungen erfordern.
Haben die strengen Besuchsregeln in Krankenhäusern gewirkt?
Über die sozialen Fragen hinaus verlangt der VdK aber auch Antworten auf medizinische und pflegerische: Haben die strengen Besuchsregeln in Krankenhäusern und Pflegeheimen gewirkt? Brauchen die Leitungen in den entsprechenden Einrichtungen mehr Flexibilität, um passgenaue Lösungen zu finden? Waren die entsprechenden Hygienemaßnahmen sinnvoll, und wurde auch das Personal entsprechend geschützt?
Damit das Erstellen einer entsprechenden Sozialbilanz nicht zum politischen Spielball wird, schlägt der VdK vor, mit der Erhebung bis nach der Kommunalwahl in diesem Herbst zu warten. Dann aber sollten die Verantwortlichen ihre Hausaufgaben zügig machen, damit man die notwendigen Maßnahmen auf den Weg bringen kann. „Zwischenmenschlich hat unsere Gesellschaft doch Nachholbedarf“, mahnt Horst Vöge.