An Rhein und Ruhr. Ist eine Gewaltnacht wie in Stuttgart auch bei uns in NRW möglich? Ein Kriminologe warnt vor der Macht von Bildern und Prahlerei im Internet.

Gewalttätige junge Männer, Tritte gegen Polizeibeamte, zerbrochene Schaufenster: Die nächtlichen Ausschreitungen in der Stuttgarter Innenstadt haben am Wochenende bundesweit für Aufsehen gesorgt. Ein Einzelfall? Oder nimmt die Gewalt gegen Polizeibeamte tatsächlich zu? Und sind ähnliche Exzesse auch in Nordrhein-Westfalen möglich? Eine Spurensuche.

„Die Kollegen berichten in den vergangenen Wochen von deutlich mehr Anfeindungen und Aggressionen ihnen gegenüber“, sagt Michael Mertens, NRW-Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Auch Respektlosigkeit und unkooperatives Verhalten zähle dazu. Der Gewaltausbruch in Stuttgart sei aus heiterem Himmel gekommen – um ähnliche Vorfälle in NRW zu verhindern, sei Wachsamkeit gefragt. Neuralgische Punkte in den Großstädten seien ja bekannt, so Mertens.

Aggressives Grundverhältnis gegenüber Polizeibeamten

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Von Kersten Münstermann und Miguel Sanches

Auch eine Sprecherin der Polizei Essen/Mülheim berichtet von einem aggressiveren Grundverhältnis gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen in Uniform: „Ein gewisser Respekt fehlt einfach.“ In der Rheinmetropole Düsseldorf registriere die Polizei ebenfalls ein zunehmend feindseliges Verhalten gegenüber den Beamten. „Es wird gefühlt mehr“, sagt eine Sprecherin auf NRZ-Anfrage.

Ein Eindruck, der sich zumindest statistisch betrachtet nicht in allen NRW-Städten nachweisen lässt. So habe es im Kreis Kleve von Januar bis Mai 2020 laut Polizeistatistik 37 erfasste Straftaten gegeben, bei denen eine Person Widerstand gegen einen Vollstreckungsbeamten leistete oder einen tätlichen Angriff ausübte. Ein Jahr zuvor waren es noch 40 Fälle. Auch im Kreis Wesel und in Duisburg – wo es am 17. und 19. Mai im Stadtteil Marxloh bei der Festnahme zweier Personen zu tumultartigen Szenen gekommen ist – seien die Zahlen insgesamt eher rückläufig.

Polizei in Deutschland und USA nicht vergleichbar

Trotzdem nehme Mertens eine zunehmend feindselige Haltung gegenüber der Polizei wahr. Einer der Gründe sei die Debatte um rassistische Polizeigewalt, die aus den USA nach Deutschland geschwappt ist, sagt der Gewerkschafter. Dabei seien Vergleiche zwischen den Polizeibehörden aus Deutschland und den USA falsch: „In Deutschland gibt es eine ganz andere, bessere und längere Ausbildung der Beamten. Anders als in den USA setzt die Polizei bei uns auf eine Deeskalationsstrategie.“ Zwangsmittel würden nur angewandt, wenn sich ein Konflikt anders nicht lösen lässt.

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Es seien aber nicht nur aktuelle Diskussionen, die zu mehr Feindseligkeiten beitragen würden, auch gesellschaftliche Entwicklungen zählen laut Mertens dazu: „Die bürgerliche Mitte geht immer mehr verloren, die Gesellschaft driftet nach links und rechts auseinander. Die Polizei steht dazwischen.“ Und auch die Verrohung der Sprache durch soziale Medien habe ihren Anteil, sagt der Gewerkschafter. Hass im Netz führe zu immer mehr Hass und auch Gewalt in der Gesellschaft.

Kriminologe sieht auch Fehlverhalten bei der Polizei

Auch Prof. Dr. Joachim Kersten, Kriminologe und Soziologe an der deutschen Hochschule der Polizei in Münster, hält einen Vergleich mit den USA für unzulässig. „In den USA gibt es pro Jahr rund 1000 bis 1500 Tote durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz. In Deutschland waren es 2019 exakt 14.“ Zudem seien die Polizeireformen in Amerika seit 150 Jahren gescheitert. „Das ist mit unserer Situation – zumindest seit den 90er Jahren – nicht vergleichbar.“

Was allerdings nicht bedeute, dass es unter Polizisten in NRW kein Fehlverhalten gebe: „Wenn beispielsweise in Regionalzügen ausschließlich Personen kontrolliert werden, die wegen ihrer Hautfarbe oder Nationalität anders aussehen, ist das nicht richtig.“ Kersten könne durchaus nachvollziehen, dass einige Bürger eine kritische Haltung gegenüber der Polizei haben. „Die versaubeutelten NSU-Ermittlungen, die Beteiligungen an rechtsextremen Organisationen – aber was nicht geht, ist diese Plattmacherei und einseitige Argumentationsweise.“

Prahlerei in den sozialen Medien

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Widerstand gegen Polizeibeamte sei kein neues Phänomen. „Den hat es auch schon in den 50er Jahren gegeben, als es massive Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und jungen Arbeitern gab“, so Kersten. „Was allerdings neu ist, sind aufgebrachte Mengen von jungen Männern, die ihrer Wut aufgrund situativer Anlässe freien Lauf lassen.“ Dabei gehe es den Randalierern auch um Prahlerei in den sozialen Medien. „Nehmen Sie zum Beispiel den Tritt gegen einen Polizisten in Stuttgart: Die jungen Männer sehen, dass Leute Clips ins Netz stellen und wollen sich wichtig fühlen.“

Um Polizisten in NRW besser auf solche Konfliktsituationen vorzubereiten, plädiert der Kriminologe für eine bessere Betreuung im Dienst: „Während des Studiums werden Polizeianwärter von Tutoren unterstützt, in der Praxis fehlt diese intensive Begleitung“, so Kersten. „Die Polizisten sind im Einsatz weitgehend auf sich allein gestellt. Und treffen dann auf eine Realität, die sie nicht erwartet haben.“

Das sagen die Stuttgarter zu den Randalen

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