Essen. In der Corona-Krise gibt der Staat Milliarden aus. Die Schwächsten der Gesellschaft haben nichts davon, kritisiert Prof. Christoph Butterwegge.
Um die Folgen der Corona-Krise abzumildern, hat der Staat Milliarden-Programme aufgelegt. Davon profitiert vor allem die Wirtschaft. Die Schwächsten der Gesellschaft aber werden allein gelassen, kritisiert der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge im Interview mit unserer Redaktion.
Professor Butterwegge, es heißt häufig, vor dem Corona-Virus seien alle Menschen gleich. Sie stören sich an dieser These. Warum?
Prof. Butterwegge: Historisch betrachtet haben Pandemien zwar häufig sozial nivellierend gewirkt. Das gilt etwa für die Pest im Mittelalter, nach der die Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise sanken, während die Löhne stiegen, weil Arbeitskräfte fehlten. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde dadurch zeitweilig eingeebnet. Bei Covid-19 scheint es aber eher so zu sein wie bei Typhus, Tbc oder Cholera, den schlimmsten Epidemien des 19. Jahrhunderts. Von ihnen wurden sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen härter getroffen, weil sie keinen Zugang zu nicht verseuchtem Trinkwasser hatten oder die gültigen Hygienestandards nur selten einhalten konnten und sich deswegen schneller infiziert haben.
Wen trifft die Corona-Krise besonders hart?
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Prof. Butterwegge: Vor allem Immunschwache, die meistens auch einkommensschwach sind. Dazu gehören beispielsweise Obdach- und Wohnungslose, aber auch Flüchtlinge und osteuropäische Werkvertragsarbeiter, die in Sammelunterkünften zusammengepfercht leben. Ähnliches gilt aber auch für Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige und Transferleistungsempfänger, die jetzt noch weniger Möglichkeiten als vor der Corona-Pandemie haben. Ein Hartz-IV-Bezieher, der sonst zur Lebensmitteltafel gehen konnte, ist natürlich schlecht dran, wenn die geschlossen wurde. Teilweise zeichnet sich bei diesen Menschen eine Tendenz zur Verelendung ab, weil die staatlichen Hilfsmaßnahmen eher die Wirtschaft betreffen, die Mittellosen aber so gut wie gar nicht bedacht haben.
Der Staat kommt in dieser Krise also seiner Schutzverantwortung nicht nach?
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Prof Butterwegge: Eigentlich müsste sich ein Sozialstaat, dem das Grundgesetz den Auftrag erteilt, die Würde des Menschen zu schützen, in einer solchen Ausnahmesituation zuallererst um diejenigen kümmern, die der Pandemie hilflos ausgeliefert sind. Trotzdem hat sich der Bund um diese Gruppen noch überhaupt nicht gekümmert. Ein Beispiel: Kinder aus sozial benachteiligten Familien erhielten vor der Krise in Betreuungseinrichtungen oder Ganztagsschulen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket ein kostenloses Mittagessen. Seit mehreren Wochen sind die Kinder zu Hause und ihren Eltern dadurch zusätzliche Kosten entstanden, ohne dass man das Arbeitslosengeld II beziehungsweise das Sozialgeld durch einen Mehrbedarfszuschlag erhöht hätte.
Generell gibt es die Befürchtung, die Krise könne die Bildungsungerechtigkeit verschärfen. Teilen Sie diese Befürchtung?
Prof. Butterwegge: Ja, durchaus. Hält die Schließung oder eingeschränkte Öffnung von Schulen weiter an, dürfte der Graben zwischen den Kindern, die zu Hause mehr Bildungsanregungen bekommen, eine angenehme Lernumgebung haben und digital bestens ausgestattet sind, und denjenigen, die ihre Schularbeiten vielleicht in der Küche einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung machen müssen, noch breiter werden. Insofern besteht die Ungleichheit, die es bei den Infektionsrisiken gibt, auch bei den Bildungschancen.
Friedrich Merz hat gefordert, nach der Krise soziale Transferleistungen auf den Prüfstand zu stellen. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel: „Die zerrissene Republik“. Droht nach der Krise eine weitere Zerreißprobe?
Prof. Butterwegge: Zwar haben viele Kommentatoren die Hoffnung, dass die Solidarität durch eine gemeinsam gemeisterte Krise zunimmt, Stichwort: Nachbarschaftshilfen. Ich nehme hingegen wahr, dass die Zerrissenheit der Republik schon bei den ersten Lockerungsmaßnahmen deutlich zunimmt. Seuchen sind ein Segen für Sekten aller Art, weshalb Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn derzeit Hochkonjunktur haben. Selbst in der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD brechen politische Gräben auf, wie man am neuerlichen Gezerre um die Grundrente sieht. Künftig werden sich die Verteilungskämpfe noch verschärfen, und zwar entlang der bekannten Linien.
Was heißt das konkret?
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Prof. Butterwegge: Da sind diejenigen wie Friedrich Merz, die auf den weiteren Abbau des Sozialstaates setzen, was vermutlich auch AfD und FDP tun. Das hieße allerdings, ausgerechnet den sozial Benachteiligten und am meisten Bedürftigen jene riesige Kostenlast aufzubürden, die durch die Pandemie einerseits und die Schutzmaßnahmen des Staates andererseits entstanden ist.
Was müsste stattdessen geschehen?
Prof. Butterwegge: Man sollte auf gar keinen Fall den Sozialstaat zur Ader lassen, sondern lieber den Rüstungshaushalt senken, mehr Schulden aufnehmen und die Reichen über höhere Steuern zur Kasse bitten, insbesondere jene, die von der Pandemie und den Rettungsschirmen profitiert haben. Warum soll es keine Vermögensabgabe und keinen Corona-Soli geben, zu dem der jetzige Solidaritätszuschlag umgewidmet werden könnte? Kürzlich hat BMW seinen Aktionären mehr als 1,5 Milliarden Euro Dividende ausgezahlt, wodurch das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, Susanne Klatten und Stephan Quandt, denen der Münchner Konzern fast zur Hälfte gehört, vor Steuern noch einmal um rund 750 Millionen Euro reicher geworden ist. Zugleich nimmt die Bundesagentur für Arbeit dem Automobilhersteller über das Kurzarbeitergeld die gesamten Lohnkosten ab. In unserem Nachbarland Frankreich kann ein Unternehmen, das Dividenden ausschüttet, gar kein Kurzarbeitergeld beziehen. Diese Regelung sollte Deutschland baldmöglichst übernehmen!
Wie erklären Sie sich die Selbstverständlichkeit, mit der die BMW-Aktionäre Ihre Dividende trotz der Krise einstreichen?
Prof. Butterwegge: Wahrscheinlich glauben sie, dass ihnen dieses Geld als Kapitaleignern zusteht, obwohl es „anstrengungsloser Wohlstand“ ist, um den zynischen, von Guido Westerwelle auf Hartz-IV-Bezieher gemünzten Spruch abzuwandeln. Unter den ganz Reichen und Großaktionären ist Raffgier weit verbreitet. Wenn man wie Klatten und Quandt ein Privatvermögen von 35 Milliarden Euro hat, braucht man keine Dividendenzahlung, auch nicht als Lohn dafür, dass sich beide im Unternehmen betätigen. Besser wäre mehr Empathie für ihre Beschäftigten in Kurzarbeit null, die jetzt auf einen wesentlichen Teil ihres Einkommens verzichten müssen. Für die Arbeiter in den BMW-Werken mag das wegen ihres relativ hohen Tariflohns verkraftbar sein, für einen Verkäufer oder eine Friseurin ohne finanzielle Rücklagen bedeutet das aber den Sturz in die Armut.
Wie kann ein solcher Absturz verhindert werden?
Prof. Butterwegge: Das kann man verhindern, indem das Kurzarbeitergeld von Beginn an deutlich erhöht und um ein Mindestkurzarbeitergeld ergänzt wird, was auch die Sozialausschüsse der CDU fordern. Nie dürfte das Kurzarbeitergeld unter das Mindestlohnniveau sinken. Auch mehrere Millionen Minijobber, unter denen viele Kleinstrentnerinnen und Studierende sind, müssten Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben, wenn die Gaststätte, in der man normalerweise kellnert, oder wenn der Laden geschlossen ist, in dem man sonst Regale einräumt. Gerade für Geringverdiener sind gestiegene Lebensmittelpreise und geschlossene Lebensmitteltafeln ein Riesenproblem. Mehr Geld braucht man eventuell auch für die Stärkung des Immunsystems und Schutzmaßnahmen gegen das Virus.
>>> Info: Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.