Den Haag-Scheveningen. In Scheveningen steht ein „Hotel“, in dem früher Widerstandskämpfer einsaßen. Es erinnert als Museum an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs.
In Zelle 601 ist das ganze Grauen sichtbar. Hier, auf den paar Quadratmetern in Gang D, warten die Verurteilten auf die Vollstreckung. Prozesse gibt es nicht, es genügt, zur falschen Seite zu gehören. Dann geht es in die nahen Dünen – und zwar nicht, um gleich dahinter das Meer zu sehen, sondern den Tod.
Diese Geschichte spielt in Scheveningen, dem heute auch von deutschen Touristen sehr beliebten Strandbad von Den Haag. Vor 80 Jahren kommen die Nachbarn allerdings nicht in friedlicher Absicht. Im Zweiten Weltkrieg wird das örtliche Gefängnis nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande und deren Kapitulation am 10. Mai 1940 von der Besatzungsmacht übernommen. Wo vorher deutsche Kriegsgefangene eingesessen haben, werden nun vor allem niederländische Widerstandskämpfer eingebuchtet. Willkommen im „Oranjehotel“.
„Der Name entstand als ironische Anspielung auf das in Scheveningen damals tatsächlich existierende ‚Hotel d’Orange‘. Doch im ‚Oranjehotel‘ saßen die ‚Gäste‘ ja unfreiwillig, weil sie sich für das Vaterland, das Haus Oranien, einsetzten“, weiß Ulrike Grafberger.
Die aus Bamberg stammende Journalistin und Autorin mehrerer Reisebücher lebt seit fast 20 Jahren in Den Haag. Das Gebäude in der Van Alkemadelaan 1258 / Ecke Stevinstraat hat sie im Laufe der Zeit mehrfach besucht und sich mit den bedrückenden Schicksalen, die sich hinter den Mauern dort abgespielt haben, eingehend befasst. Nachzulesen ist das in ihrem Blog scheveningen-strand.de.
Ein Bett für fünf Gefangene
„In den kleinen Zellen, die heute noch zugänglich sind, befanden sich ein Bett, ein Klapptisch mit Hocker und ein Eimer für die Notdurft. Doch nicht ein Mensch saß hier ein, sondern drei bis vier, manchmal sogar fünf. Nur einer der Gefangenen konnte das Bett nutzen, die anderen schliefen auf Strohsäcken am Boden. Essen gab es über eine kleine Luke: mittags Kohlsuppe und abends trockenes Brot. Zum ‚Auslüften‘ wurde ein kurzer Aufenthalt im Hof gewährt. Bis zu 1.500 Gefangene waren im Oranjehotel zur gleichen Zeit eingesperrt“, steht dort.
Das Gebäude sollte den Nazis zunächst als Durchgangsstation dienen. Es gab ein Untersuchungsgefängnis für Straftäter, ein Militär- sowie ein Polizeigefängnis, das Letztgenannte war das sogenannte „Oranjehotel“. Niederländer, die von den Deutschen des Widerstands verdächtigt wurden, hielten die Besatzer in Scheveningen fest. Nach strengen Verhören wurden viele Gefangene von dort aus in deutsche Lager gebracht, einige aber auch vor Ort einfach hingerichtet. „Auf der benachbarten Waalsdorpervlakte in den Scheveninger Dünen wurden insgesamt 250 Menschen erschossen“, berichtet Ulrike Grafberger in ihrem Blog.
1941 wird das Gefängnis um ein weiteres Gebäude vergrößert. Nicht nur Widerstandskämpfer, sondern auch Politiker, Kommunisten, Christen, Juden, Intellektuelle und Kriminelle landen in den Zellen. Der jüngste Gefangene in dieser Zeit ist erst drei Jahre alt; das Kind wird gemeinsam mit seiner vierjährigen Schwester als Geisel gehalten. Der Vater der Kinder, ein Professor der Amsterdamer Universität, der zusammen mit seinen Studenten gegen die Deutschen konspiriert hatte und untergetaucht war, sollte auf diese Weise dazu gezwungen werden sich zu stellen.
Am 7. Juni 1944, einen Tag nach der Landung der Alliierten in der Normandie, werden die Insassen des Gefängnisses ins KZ Herzogenbusch („Kamp Vught“ im heutigen ‘s-Hertogenbosch) gebracht.
Nach der Befreiung durch die Alliierten am 5. Mai 1945 werden im „Oranjehotel“ Angehörige der deutschen Besatzung inhaftiert. Darunter der SS-Untersturmführer Ernst Knorr. Der Nazischerge wird am 7. Juli 1945 tot in seiner Zelle aufgefunden, doch bis heute ist unklar, ob er Selbstmord beging oder umgebracht wurde, denn sein Körper Spuren von Misshandlungen aufwies.
Bis zu 25.000 Gefangene
Geschätzt wird, dass zwischen 1940 und 1945 bis zu 25.000 Menschen aus den Niederlanden im „Oranjehotel“ inhaftiert waren. Genaue Angaben darüber gibt es nicht, die Deutschen vernichten zum Ende des Zweiten Weltkriegs alle Dokumente. Die Prozesse gegen sie dauern bis 1948 an, dann wird das „Oranje-Hotel“ wieder – und bis 2010 – ein „normales“ Gefängnis.
2019 wird es als „Museum Nationalmonument Oranjehotel“ neu eröffnet. Besucher können in Zelle 601 erfahren, welche Grausamkeiten sich hier vor fast acht Jahrzehnten abgespielt haben.
Hinweis: Wegen der Corona-Pandemie ist das „Oranjehotel“ derzeit noch geschlossen. Am 2. Juni öffnet es seine Tore wieder für Besucher.
Adresse: Van Alkemadelaan 1258 / Ecke Stevinstraat, 2597 BP Den Haag. Di-So, 11-17 Uhr; 9,50 € Erw., Jugendliche bis 14 Jahre 5 €; Parken gratis, Audiotour auch in Deutsch, Filme mit englischen Untertiteln; Museumscafé. Mehr Infos unter: www.oranjehotel.org.