An Rhein und Ruhr. Die Geschäfte sind nach dem Corona-Lockdown wieder geöffnet. Der erhoffte Nachholeffekt ist jedoch ausgeblieben. Der Branche droht eine Krise.
Stell dir vor, die Läden sind auf – und keiner geht hin: Shopping als zweitliebstes Hobby nach dem Reisen – das war einmal. Der Handel steckt auch nach dem vorläufigen Ende des Lockdowns in der Krise. In einer ersten Umfrage unter 500 Mitgliedsunternehmen in NRW zeigt sich: Der Umsatz liegt höchstens auf der Hälfte des Vorjahresniveaus, so der Einzelhandelsverband NRW. Jedes fünfte Geschäft in der Bekleidungsbranche sieht sogar ein Minus von 75 Prozent gegenüber 2019.
„Die Krise ist für den Handel noch lange nicht vorbei. Das Bummeln durch die Geschäfte und ungeplante Einkäufe haben es angesichts der aktuellen Lage schwer. Die meisten Kunden gehen beim Einkauf sehr planvoll vor und verlassen die Geschäfte nach kurzer Zeit wieder“, so Hauptgeschäftsführer Stefan Genth vom Einzelhandelsverband. Er fordert: nicht-rückzahlpflichtige Finanzhilfen für die gesamte Branche und "Coronaschecks für alle Bürger" um die Nachfrage wieder anzukurbeln. Denn vier von zehn Einzelhändlern beklagen volle Lager, weil die Kunden nicht kaufen, und schwache Nachfrage.
Auch Gerrit Heinemann (60), einer der profiliertesten Einzelhandelsexperten im deutschsprachigen Raum und Professor an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, äußert im Gespräch mit Stephan Hermsen eine mehr als düstere Prognose: 200.000 Jobs werden wegfallen, etwa ein Viertel davon in NRW.
Herr Professor Heinemann, mit welchen Auswirkungen der Coronakrise rechnen Sie?
Gerrit Heinemann: Die Zahlen hängen auch davon ab, ob es einen zweiten Shutdown geben wird. Sollte der im Herbst kommen, sieht es bis Jahresende noch schlimmer aus. Es geht vor allem um den Bereich Non-Food, der bis zur Wiedereröffnung schon fünf Prozent des gesamten Jahresumsatzes auf Zahlenbasis von 2019 gekostet hat – da reden wir für den Zeitraum von Mitte März bis zur vorletzten Aprilwoche mit einem Minus von über 12 Milliarden. Für den Rest des Jahres ab 11. Mai müssen wir noch einmal mit weiteren 10 bis 20 Prozent Rückgang im Vorjahresvergleich rechnen. Das heißt: aufs Jahr gesehen ist mit bis zu 20 Prozent Umsatzrückgang zu rechnen – das bedeutet: bis zu 36 Milliarden Euro weniger Umsatz als im Vorjahr.
Wieso kommt es dazu? Die Läden sind doch alle wieder geöffnet.
Ja, aber die Kundenfrequenz ist nicht die gleiche und liegt auch nach Öffnung mehr als 50 Prozent unter Normal. Die Kauflaune ist im Keller. Wir haben durch die Hygienevorschriften zudem eine deutliche Einschränkung der Service-Kapazitäten in den Läden. Und viele fürchten das Gedränge und Ansteckungsgefahr. Das heißt: Es wird nicht shoppen gegangen, sondern kurz und zielgerichtet nur das Nötigste eingekauft. Hinzu kommen die Ängste wegen zunehmender Kurzarbeit, drohender Arbeitslosigkeit – das wird bis zum Jahresende nachwirken. Zudem gibt es im Bereich Non-Food massive Probleme mit den Lieferketten. Das Institut für Handel in Köln hatte schon vor Corona geschätzt, dass es bis Jahr 2030 rund 34.000 Geschäftsaufgaben geben wird. Das werden wir womöglich schon im Laufe diesen Jahres erreichen. Es ist sogar denkbar, dass die Hälfte der nicht filialisierten Händler, das sind rund 400.000 in Deutschland, dieses Jahr nicht überleben werden.
Was bedeutet das für die Arbeitsplätze?
Ganz grob rechnet man mit einem Mitarbeiter pro 120.000 Euro Jahresumsatz. Sind wir optimistisch und gehen von 150.000 Euro pro Mitarbeiter aus und einem mittleren Umsatzrückgang von 30 Milliarden – dann wären wir bei einem Verlust von 200.000 Arbeitsplätzen im Laufe des Jahres.
Noch merkt man davon wenig.
Richtig, aber Ende September werden mehrere Faktoren zusammenkommen, die die Einzelhändler nicht werden stemmen können. Dann werden gewöhnlich die Lieferantenzahlungen für das Weihnachtsgeschäft fällig. Zeitgleich endet die Aussetzung der Insolvenzmeldepflicht, auch die 6-Monatsregelung bezüglich des Mietschuldenkündigungsgrundes. Zudem nehmen ganz viele zwar die staatlichen Kreditprogramme in Anspruch, aber die müssen ja auch irgendwann zurückgezahlt werden. Deswegen wird es vor allem bei den textilen Einzelhändlern eine riesige Insolvenzwelle geben.
Wieso trifft es die besonders hart?
Zunächst: der Anteil der nichtfilialisierten Einzelhändler hat sich etwa seit dem Jahr 2000 schon halbiert, sie machen nur noch etwa 15 Prozent des Handels aus, das würde sich dann also auf 7,5 Prozent noch einmal halbieren. In der Regel sind es die Kleineren, die zuerst dann glauben. Bislang haben die Ketten, die auch überwiegend gute Umsätze mit ihren Online-Shops machen, diesen Rückgang aufgefangen. Insofern war das für die Kunden zunächst nicht problematisch.
Wie kommen Sie zu dieser katastrophalen Einschätzung? Was ist mit dem Nachholeffekt nach dem Shutdown?
Da träumen alle von, aber dann hätte es den ja jetzt schon geben müssen – und der hat nicht stattgefunden. Der kommt auch nicht mehr, zumal ich ja auch Saisons nicht nachholen kann. Denn ich habe viele saisonale Ware – die kann ich nach Saisonende nicht mehr verkaufen. Das trifft vor allem die Textilbranche – von der Frühjahrsmode bis zum Dress für den Abiball. Hinzu kommt: Wer zuhause sitzt im Homeoffice, der kauft keine neue Kleidung. Die Textilbranche ist zudem durch die Probleme mit den Lieferketten besonders betroffen. Die werden im besten Fall mit einem Minus von 28,5 Prozent aus dem Jahr gehen. Das trifft die komplette Branche, auch die Zulieferer und Großhändler.
Gibt es denn auch Branchen, wo es besser aussieht? Bau- und Gartenmärkte beispielsweise?
Nun, die explodieren auch nicht, aber die werden mit einem blauen Auge davonkommen. Freizeitsport und Fahrradhandel kommen auch ganz gut klar, Gartenmöbel, alles was den Balkon schön macht – das geht noch. Aber die Branchen, wo es ums Aussehen und Schön sein geht, die haben richtig Probleme: Schmuck, dekorative Kosmetik, Accessoires, da bricht es wirklich ein. Wer eine Maske vorm Gesicht trägt, wird auf Make-up verzichten.
Was ist mit Kaufhausriesen wie Karstadt-Kaufhof? Werden die endgültig von Amazon gefressen?
Die sind doch schon gefressen worden, zumindest angefressen. Kaufhäuser helfen sich doch jetzt schon dadurch, dass sie an Filialisten und Lieferanten Flächen untervermieten. Wie lange sich solche Konzerne noch halten, hängt davon ab, ob Eigentümer wie Benko sie weiter als teures Hobby mitfinanzieren wollen oder eben nicht. Die Sanierungsfähigkeit hängt von der Investitionswilligkeit des Hauptaktionärs ab. Ob das dann alles noch sanierungswürdig ist, muss ja noch entschieden werden nach Vorlage des Insolvenzplans bis Ende Juni.
Wenn es zu diesen massiven Ladenschließungen kommt – wie sehen unsere Innenstädte dann in zwei oder drei Jahren aus?
Wie ein Schweizer Käse. Es sei denn, die Städte erkennen, dass es keinen Sinn hat, sich dagegen zu stemmen und verzweifelt versuchen, die Ladenlokale wieder zu öffnen. Sie sollten die Baunutzungsordnung verändern und dort die Schaffung von Wohnraum erlauben. Lieber eine schöne Schlafstadt als eine erodierte, hässliche Einkaufsstadt. Jeder versucht das jetzt durch mehr Gastronomie zu retten, aber: So viel können die Leute gar nicht essen, um das aufzufangen.
Wie sieht es denn im Online-Geschäft aus? Gibt es da neben Amazon noch weitere Profiteure?
Ganz sicher. Jeder, der im Online-Geschäft tätig ist, wird da profitieren. Das kommt für den stationären Handel ja noch dazu, dass die Verbraucher jetzt diesen hygienischeren Weg des Einkaufens erfolgreich ausprobieren. Die Kunden empfinden den Onlinehandel als systemrelevant. Nach einer Delle im ersten Quartal durch Lieferengpässe, geht es seit Anfang April steil bergauf. Dort gilt: Wer nicht 50 Prozent mehr Umsatz macht, macht was verkehrt. Zalando und Co schaffen es durch eine agile Beschaffung da in diesem Jahr ein Plus von zehn Prozent, vielleicht sogar bis 20 Prozent.
Sie sagen: Online-Handel ist Nonfood-Handel. Aber es gibt doch auch da immer mehr kleine Lieferanten wie z.B. Picnic.
Picnic ist aber auch das einzige Unternehmen, dass da ein erfolgreiches Geschäfts-Modell entwickelt hat und sagt, er sei profitabel. Für die anderen Lebensmittellieferanten bedeutet Lieferdienst bei den extrem preissensiblen deutschen Kunden: Umsatzausweitung wird mit Verlusten erkauft. Die Anbieter rudern da auch schon bereits zurück und erhöhen ganz deutlich ihre Preise und Gebühren. Der Online-Anteil bei Lebensmitteln liegt bei 0,6 Prozent und wird – ohne Tierfutter, Drogeriewaren sowie Restaurantlieferdienste - auch bis Jahresende nicht über ein Prozent steigen.
Eismann, Bofrost, Flaschenpost, Aquella – die müssen sich doch die Hände reiben.
Jein. Da der Preiskampf so hart ist und Umsatzausweitung mit Verlust erkauft wird, hat insbesondere Flaschenpost jetzt massiv an der Gebührenschraube gedreht und bekommt negative Bewertungen. Wenn Umsätze nicht nachhaltig sind, das rächt sich.