An Rhein und Ruhr. Uni-Expertin fordert mehr Anstrengungen beim Entwickeln digitalen Lernens - auch eine digitale Lernmittelfreiheit sei zu begrüßen.

Isabell van Ackeren befasst sich damit, wie Schulen und Lehrer fit für die Bildungszukunft gemacht werden könnten: Seit 2009 forscht und lehrt die gebürtige Duisburgerin als Professorin für Bildungssystem- und Schulentwicklungsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Für diese tut sie ähnliches: Seit 2014 ist die 46-Jährige als Prorektorin für Studium und Lehre Teil der Hochschulleitung. Sowohl bei der eigenen Uni, mehr aber noch bei den Schulen im Land fragt sie sich, wie Lehren und Lernen im Corona-Zeitalter aussehen könnten - Stephan Hermsen hat sie interviewt.

Frau Prof. van Ackeren, ist der jetzt eingeschlagene Weg zurück in den Schulbetrieb aus Ihrer Sicht der richtige?

Man muss da sehr vorsichtig sein, weil sich Schülerinnen und Schüler vor Ort treffen und das nicht wirklich kontrollierbar ist. Aber unter kontrollierten Bedingungen Prüfungen abzulegen, ist sicherlich möglich und wir müssen an Schulen und Hochschulen auch sehen, wie wir wieder in den Alltag hineinfinden. Insgesamt zeigt das Vorgehen aber, welchen Flickenteppich wir im Bereich Schule in Deutschland haben.

Wenn man sich die mehrwöchige Schulpause anschaut – was bedeutet das für die Schüler?

Es gibt viele Studien dazu, die sich allerdings auf die Sommerferien beziehen. Es hat sich klar gezeigt, dass Lernpausen einen deutlichen Unterschied machen, je nachdem, aus welchem sozialen Milieu Schüler kommen. Kinder aus weniger privilegierten Schichten verzeichnen Rückschritte, Kinder aus Milieus mit mehr Unterstützungsmöglichkeiten haben weniger Probleme. Das dürfte auch jetzt eine Rolle spielen. Die Gesellschaft leistet sich Schule ja auch, um ausgleichend zu wirken.

Würde es helfen, wenn die Kinder zuhause zumindest die gleiche digitale Infrastruktur hätten?

Die Infrastruktur ist in vielen Fällen ein zentraler Aspekt. Da geht es nicht nur um den Computer, sondern zum Beispiel um den Drucker. Viele Aufgaben sollen jetzt auch ausgedruckt, bearbeitet und dann wieder eingescannt werden. Diese Möglichkeiten hat nicht jedes Kind. Es macht auch etwas aus, wie intensiv zuhause über Schule geredet wird und wie sehr Eltern ihre Kinder unterstützen können.

Wäre dafür so etwas wie eine digitale Lernmittelfreiheit eine Hilfe?

Es wäre sicher zu begrüßen, wenn wir da mehr tun könnten, das ist eine Ressourcenfrage. Es ist sinnvoll, in diese Richtung weiter zu denken. Aber es wäre zunächst hilfreich, dass Schule sich darauf einstellt und entsprechend niederschwellige Lernangebote macht.

Lehrerinnen und Lehrern gehören oft noch nicht zu den „Digital Natives“, die mit dem Internet aufgewachsen sind. Ist für sie das Unterrichten jetzt eine besondere Herausforderung?

Das ist bestimmt so. Es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer, die noch nicht mit digitalen Ansätzen im Unterricht gearbeitet haben. Das ist auch eine Frage der jeweiligen Schulkultur. Es gibt jetzt zwar den Digitalpakt, mit dem die Infrastruktur geschaffen wird, aber wir haben noch enormen Entwicklungsbedarf und brauchen technische und didaktische Unterstützung für viele Lehrerinnen und Lehrer. Es geht darum, qualitätsgeprüfte Lerninstrumente zu entwickeln und in der Breite einzuführen. Das ist ja noch nicht geschehen. Das Engagement der Schulen ist enorm, aber die Rahmenbedingungen sind noch sehr unsicher. Das bleibt eine riesige Zukunftsaufgabe.

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Rechnen Sie damit, dass Corona da zu einer Art Katalysator wird, damit uns Covid 25 oder Covid 37 nicht wieder so treffen?

Ich glaube schon. Die Schulleitungen werden das aufgreifen und Digitalisierungskonzepte erstellen. Einige Schulen machen das schon im Verbund. Das halte ich für richtig, weil nicht jede Lehrkraft alles entwickeln muss. Da bieten wir uns als Universitäten in der Lehrerausbildung auch an.

Brauchen wir nicht nur für jedes Kind ein Instrument, sondern auch für jedes Kind ein Internet, das leistungsfähig ist?

Das würde ich mir sehr wünschen, denn das ist eine Grundvoraussetzung. Egal, ob es um direkten Unterricht per Video geht oder um asynchrone Angebote, wo Schülerinnen und Schüler zu einer von ihnen gewählten Zeit auf Lerninhalte zugreifen. Daher ist es wichtig, dass alle Kinder überall schnellen Internetzugang haben. Die Diskussion, ob schnelles Internet an jeder Milchkanne nötig ist, fand ich schon immer merkwürdig. Da hängt Deutschland international sehr hinterher.

Gibt es Bereiche, wo Sie sagen: Da allein reicht Unterricht via Internet nicht?

Es ist wichtig, sich in größeren Gruppen zu begegnen und so genannte Primärerfahrungen zu machen: Dinge zu spüren, anzufassen, zu merken: Da reagiert ein Mensch mit allen Sinnen auf mich. Diese Erfahrungen im Lebensraum Schule, der mehr ist als nur das Klassenzimmer, sind wichtig, um sich mit Unterstützung von Lehrerinnen und Lehrern Welt anzueignen. Zumal Kinder zuhause in schwierigen Situationen sein können, da ist es wichtig, dass sie Hilfe und Anregung in der Schule bekommen. Dafür ist zum Beispiel der Ganztag sehr wichtig.

Bei der Frage dieser Kinderbetreuung wird derzeit mit systemrelevanten Berufen argumentiert, nicht mit sozialer Relevanz fürs Kind.

Der Schutz der Gesundheit hat oberste Priorität. Es gilt aber zu diskutieren, was wir dafür aufgeben. Und da sind Bildungsfragen ein sehr hohes Gut. Was in den unterschiedlichen häuslichen Umgebungen mit den Kindern passiert, ist prägend. Was erleben sie dort an Ängsten der Eltern, an Streitigkeiten? Solche Themen müssen wir stärker mitdenken. Das ist vielleicht vielen der Experten, die über die Fragen des Infektionsschutzes nachdenken, fremd. Aber auch das ist ein Teil der Wirklichkeit. Schule bietet einen Ort, solche Dinge aufzufangen und zu bearbeiten und der fällt derzeit weg.

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Können Sie absehen, in welchen Bereichen Corona Thema der Forschung wird?

Medienpädagogik gibt es ja schon länger, aber auch für die Bildungsforschung insgesamt ist das sehr spannend. Wir haben schon verschiedene Umfragen gestartet, wo es darum geht, festzustellen, wie Schulleitungen und Lehrkräfte auf die Herausforderungen des digitalen Lernens blicken. Die lehrerbildenden Universitäten in NRW befassen sich auch damit, was wir gemeinsam mit den Bezirksregierungen tun können, um die Lehreraus- und -fortbildung im Bereich digitales Lernen voranzutreiben. Wir müssen aber auch fragen, inwieweit sich Fortbildungen selbst digitaler gestalten lassen. Das sind derzeit noch oft Präsenzveranstaltungen, da wird es künftig wohl mehr Webinare geben.

Sie sind Prorektorin für Studium und Lehre. Haben Sie sie in den letzten Wochen gedacht: Wir hätten mehr in Richtung Digitalisierung machen müssen?

Wir haben schon seit längerem eine Digitalisierungsstrategie für Studium und Lehre und sind daher anschlussfähig. Wir wollten und mussten flexibler werden und alternative Lehr- und Lernwege ergänzend zur Präsenzuni finden. Weil wir Studierende haben, die räumlich und zeitlich unabhängiger lernen müssen. Jetzt aber ist das reine E-Learning wichtig geworden. In Teilen sind wir sehr gut vorbereitet, aber in dieser Breite ist das für eine Uni eine echte Herausforderung. Jetzt muss alles noch viel schneller gehen. Das wird der Digitalisierung noch einen neuen Schub geben.

Sind Sie selbst komplett im digitalen Homeoffice?

Nicht nur, es gibt immer Dinge, die sich nur in der Hochschule erledigen lassen. Wir müssen Unterschriften leisten und ein Rektor muss beispielsweise neue Professoren vereidigen, das geht nicht per Internet. Ansonsten bin ich gespannt, wie uns in den digitalen Formaten der Start ins Sommersemester mit 43.000 Studierenden gelingt – das ist eine echte Herausforderung auch für die Serverkapazitäten, wenn alle Lehrenden auf digitale Formate umstellen. Da werde ich sicherlich auch vor Ort sein wollen.