Essen. Unser Kolumnist Matthias Maruhn schreibt von der Bank aus über seine Erlebnisse in schwierigen Zeiten. Dieses Mail geht’s um das Alter.

Ist das etwa ein Knöllchen? Wir sind doch letzte Woche mit der Karre gerade mal 30 Zentimeter gefahren. Meine Frau reißt das Schreiben der Stadt Essen auf, liest kurz, grinst verdächtig unverschämt und sagt: „Ist für Dich. An die Generation 60 plus. Von unserem Oberbürgermeister. Ihr sollt euch die Hände waschen und mit dem Arsch zu Hause bleiben.“

Schluck. Klar, ich werde die Tage 63. Und klar habe ich die Adresse „hohes Alter“ bereits vor einiger Zeit in mein Lebens-Navi eingegeben. Da war aber von „Sie haben Ihr Ziel erreicht“ bisher nicht die Rede. Ein Festnetzklingeln holt mich zurück ins Jetzt. „Ja, Nehen hier, hallo Herr Maruhn, ich würde gerne mal mit Ihnen reden. Über Corona und die älteren Leute.“ Jetzt kommt’s aber dicke.

Wiedersehen mit Hans-Georg Nehen

Natürlich bin ich gleich am nächsten Tag hin. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit Hans-Georg Nehen. Ich mag den Mann. Vor Jahren habe ich ihn interviewt. Er ist Arzt, Professor, war damals Chef einer Geriatrie-Klinik, ich kenne niemanden, der soviel weiß über das Alter und seine Tücken. Wir setzen uns hin, braver Abstand, wie das Foto beweist, dann reden wir natürlich zunächst mal ausgiebig über unsere Kinder und den letzten Urlaub, über das Wandern und die Welt.

Er schenkt mit langem Arm einen Kaffee nach und kommt zur Sache: „Ich werde ja selbst im Herbst 72, ich spreche also aus eigener Erfahrung. Ich habe auch aus den Leserbriefen in der NRZ gelernt, dass sich einige Leute diskriminiert fühlen, wenn sie über ihr Alter einer Gruppe zugeordnet werden. Das will ich nicht. Ich will informieren. Und warnen.“

Grundlage des Problems sei eine trügerische Selbstwahrnehmung. „Ein 70-Jähriger fühlt sich heutzutage eher fit. Er kann noch alles, er treibt Sport. Und tatsächlich sind 70-Jährige oft so fit wie es vor 20 Jahren die 60-Jährigen waren.“ Nur hat die Sache einen Haken. Das Immunsystem führt ein Eigenleben und altert doch. „Der Fachbegriff ist Immunoseneszenz. Die Antikörper sind viel weniger effizient als bei Jüngeren. Und das macht sich bei Infektionskrankheiten dramatisch bemerkbar. Bereits mit 50 beginnt diese Mauer zu bröckeln, mit 70 hat sie Löcher wie ein Schweizer Käse.“

In Trümmern groß geworden

Nehen kennt seine Generation. „Das sind die Kriegskinder, die jetzt 70, 80 sind. In der Zeit der Bomben oder in den entbehrungsreichen Jahren danach geboren. In Trümmern groß geworden, oft ohne Vater. Die mussten früh selbstständig sein, improvisieren, sich durchschlagen. Und sie haben es geschafft. Mit eben Tugenden, die damals lebenswichtig waren und heute ein Hindernis sind. Denn heute ist es vernünftig, jede Hilfe von außen anzunehmen. Und die wird ja angeboten. Viele junge Menschen wollen doch helfen, Einkaufen gehen, zur Apotheke, was auch immer. Da sollte der Stolz nicht im Wege stehen.“

Nehen macht eine Pause. Dann bündelt er seine Gedanken zu dem Satz: „Sich helfen zu lassen ist ein Zeichen von Stärke. Und man erweitert den Horizont, lernt neue und junge Leute kennen. Es kommt auch die Zeit danach. Und damit die Gelegenheit, sich bei den Helfern revanchieren zu können.“ Ein guter Rat ist nicht immer teuer, und ein guter Arzt wohl nie so ganz im Ruhestand.