Warum unser Kolumnist Matthias Maruhn Süßigkeiten an die Kinder in der Nachbarschaft verteilt. Seine Mutter hat er vier Wochen nicht mehr gesehen.

Gestern Morgen. Ich habe tief und fest und traumlos geschlafen, bis mich das Konzert geweckt hat. Woodstock, Bayreuth, Miles Davis und Hitparade, alles durcheinander. Die Vögel bauen Tonleitern und bitten zum Himmel. Wie schön. Spielt mir das Lied vom Leben.

Vorgestern nämlich war der Tag schwer. Ein Bekannter ist gestorben, Detlef Feige, ein gestandener Presseprofi, nicht am Virus ist er gestorben, aber das spielt ja gar keine Rolle, 59 Jahre alt wurde er nur, unsere Kinder sind gut befreundet. Auch auf Facebook geht die Trauer um und ein anderer aus der Gilde, Uwe Klein, früher Sprecher der Essener Polizei, macht uns allen noch mal klar, was das in Zeiten von Corona bedeutet. Niemand außer der allerengsten Familie wird am Grab Abschied nehmen können. Das ist zunächst mal nicht tragisch, das ist es nur für die Lieben. Aber es ist traurig. Diese letzte Verbeugung ist mehr als nur ein Ritual.

36 Schokoküsse und zehn Tafeln Schokolade

Meine Frau kommt vom Joggen rein. Sie hat ihren Antrieb schon vor Jahren selbst auf Sonnenenergie umgestellt. Jetzt strahlt sie. Bereit für die Morgenkonferenz. Was gibt’s zu tun? Frage ich. Eigentlich nichts. Sagt sie. Doch, du könntest die Süßigkeiten verteilen. Ach ja, die hatte ich für die Station „Loreley“ meiner Mutter im Seniorenstift geholt. Am Samstag war ich da. Durfte aber auch an der Pforte nichts abgeben. Neue Bestimmungen. Zu gefährlich. Vier Wochen habe ich meine Mutter nicht mehr gesehen. Gestern habe ich dann angerufen. Die Pflegerin verstand meine Not und brachte meiner Mutter den Hörer. Ihr Sohn, Frau Maruhn. „Hallo Schätzchen. Wie hast du geschlafen? Wir sehen uns ja gleich.“ Sie legt auf. Ich muss lachen und weinen. Für meine Mutter bin ich am Telefon fünf Jahre alt. Aber ich höre und spüre, es geht ihr doch gut. 94 wird sie im August. Die zehn Tafeln Schokolade und die 36 Schokoküsse, wie die Dinger heute heißen, habe ich den Kindern in der Nachbarschaft geschenkt. Die Eltern waren nur so semi begeistert.

Gesten der Zweisamkeit

Meine Frau bringt mir einen halben Apfel, geschält. Madame Quarantäne. Wir haben jetzt auch mehr Zeit für diese Gesten der Zweisamkeit. Fährst Du denn wieder einkaufen? Klar. Ein Mann braucht Aufgaben. Nein wirklich, ich werde immer mehr zum Jäger und Sammler. Wenn ich die Körbe später auf den Küchentisch stelle, rufe ich meine Frau eiligst herbei, sie muss dann Beute gucken, was der Alte so zur Strecke gebracht hat. Ich lasse törichte Sätze hören wie: „Mir ist es gelungen, ein Stück Kernseife zu ergattern.“ Oder: „Die Biotomaten waren sogar 20 Cent günstiger als die Wasserdinger aus Holland.“ Sie sagt dann „Ach? Toll!.“ Und der Narr ist glücklich.

Und auch nicht mehr eifersüchtig. Auf diesen Typen, der da plötzlich mit Geldscheinen gewunken hat, obwohl er eigentlich sonst eher vom Stamme Nimm ist. Ich spreche von Vater Staat. Tatsächlich hat er meiner Frau Geld gegeben. Ohne großes Spektakel vom Amt. Weil in ihrem Kindertheater ja für Monate der Vorhang gefallen ist. Das hat sie gefreut. Und es ist ungemein hilfreich, denn so kann die Miete fürs Lager bezahlt und die auftrittsfreie Zeit überbrückt werden. Na ja, und eine kleine Bühne gibt’s ja noch. Draußen. Outdoor. Jeden Morgen. Amsel, Drossel, Fink und Star. Spielt uns das Lied vom Leben.