Essen. Soziologin Martina Franzen: Die Gesellschaft wird nach Corona nicht mehr die gleiche sein. Das gilt auch für eingeführte Überwachungsmaßnahmen.

Seit einem Jahr arbeitet Martina Franzen am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen, sie hat in Kiel, Bremen und Bielefeld studiert und an mehreren Projektgruppen der Deutschen Forschungsgemeinschaft teilgenommen. Sie beschäftigt sich unter anderem mit den Folgen der Digitalisierung für den Wissenschaftsbetrieb. Zur Zeit leitet sie den "Sozblog", auf dem sich die deutschen Soziologen austauschen und fragte dort: "Was kann die Soziologie zur Bewältigung der Corona-Krise beitragen?" Und hat auch Vorschläge.

Frau Dr. Franzen, was passiert aus soziologischer Sicht, wenn eine Gesellschaft als Ganzes in eine solche Ausnahmesituation gerät?

Martina Franzen: Die Frage ist: Haben wir noch die gleiche Gesellschaft vor uns, wenn das alles vorbei ist? Wir sehen in dieser Woche sehr klar, welche Konsequenzen die politischen Maßnahmen im öffentlichen Leben haben. Sie betreffen uns alle. Da ist die Soziologie gefragt, um zu klären, welche möglichen Nebenwirkungen das hat.

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Von Jan Jessen, Denise Ludwig, Simon Gerich und Stephan Hermsen

Woran denken Sie da?

Es werden jetzt Instrumente eingeführt, bei denen fraglich ist, ob sie nach der Krise zurückgenommen werden. Ich denke da zum Beispiel an die Handydaten, die die Telekom an das Robert-Koch-Institut übermittelt hat, um Bewegungsströme zu messen. Ich möchte dazu vorher um Erlaubnis gefragt werden. Es ist nur ein kurzer Schritt bis die positiv getesteten Menschen kontrolliert werden, ob sie die Quarantäne einhalten. Da wird das Smartphone zur elektronischen Fußfessel. Das sind massive Maßnahmen, die nicht so sichtbar sind wie die Schließung des Cafés vor der Tür. Derzeit fehlt die Zeit, über derlei Schritte zu diskutieren. Das vermisse ich.

Neben dem Zeitstress: Gibt denn es Erkenntnisse, wie Gesellschaften in solchen Lagen reagieren?

Je solidarischer eine Gesellschaft ist, desto widerstandsfähiger ist sie auch, so ein Befund aus der Katastrophensoziologie. Ich sehe da allerdings Forschungslücken. Aber die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat bereits ein Förderprogramm gestartet, um u.a. die sozialen und politischen Folgen einer Pandemie zu untersuchen.

Welche könnten das sein?

Die Regierung hat mehrfach betont, dass sie ihr Handeln mit wissenschaftlichen Experten abstimmt. Das ist derzeit vor allem der Rat der Virologen und Epidemiologen. Es ist an der Zeit, dass die Regierung auch soziologischen Rat einholt. Die Regierung sieht derzeit die Alten und Kranken als die meist Gefährdeten und will sie schützen. Aber aus soziologischer Sicht gibt es andere gefährdete Gruppen, die von diesen Schritten der Regierung betroffen sind.

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Wer sind das? Die Familien, die plötzlich ihre Kinder betreuen und ihr Homeoffice organisieren müssen?

Die auch, aber das können durchaus privilegierte Gruppen sein. Es gibt aber diejenigen, die jetzt nicht nur anders arbeiten, sondern die deutlich mehr arbeiten müssen und damit zum Teil gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt sind. Und es gibt diejenigen, deren berufliche Existenz bedroht ist und die mit finanziellen Sorgen umgehen müssen. Noch fehlt mir der politische Appell, wie man diese sozial verletzlichen Gruppen besser schützt. Anderes Beispiel: Unterricht zuhause wird in gebildeten Schichten mit guter Internet-Ausstattung funktionieren. Aber in weniger privilegierten Schichten gibt es vielleicht gar keinen Laptop, sondern nur eine Spielkonsole. Es besteht die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten noch weiter abgehängt werden, vor allem falls die Schulschließung nach den Osterferien weitergeht.

Noch haben wir eher so halb amüsiert zur Kenntnis genommen, dass nach dem Ende der Quarantäne in Wuhan die Scheidungsraten nach oben gingen. Fürchten Sie auch hierzulande, dass Familien zerbrechen oder es vermehrt zu häuslicher Gewalt kommt?

Aber ja! Die Frage ist: Gibt es in den Familien genügend Freiräume, damit jeder sein Leben leben kann? Gerade in solchen Ausnahmesituationen gepaart mit finanziellen Sorgen gibt es durchaus Befunde, dass häusliche Gewalt, vor allem gegen Frauen, zunimmt. Die Frage ist, wie kann man das abfedern?

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Die Regierung Merkel gilt durchaus als gewieft, um mit Nudging, also mit sanfter Bevormundung, eine Gesellschaft zu führen. War ihre Ansprache nicht in diese Richtung zu werten?

Ich denke, sie hat die richtigen Worte gefunden, vor allem mit dem Dank an die wichtigen Berufsgruppen. Sie hat zudem klar gemacht, dass es nicht um soziale, sondern um physische Distanzierung geht und hat sogar Beispiele gebracht wie den Podcast oder den Brief für die Großeltern. Das zeigt schon, dass sie auch auf die soziale Stimmungslage einwirken will.

Stichwort soziale Stimmungslage. Sind soziale Netzwerke im Internet ein wichtiges Instrument?

Ich denke, das muss man differenziert betrachten. Wir beobachten, dass in einigen sozialen Medien „Nachbarschafts-Challenges“ angestoßen wurden , also quasi Helferwettbewerbe, wo Menschen anbieten einander zu unterstützen. Aus Sicht der Mediensoziologin wäre es wünschenswert, dass in den klassischen Medien Experten mit speziellem Wissen zu Wort kommen und nicht die immer gleichen Menschen, die zu jedem Thema meinen etwas sagen zu können. Zudem ist zu fragen, ob die klassischen Medien wirklich alle gesellschaftlichen Gruppen erreichen. Manche informieren sich nicht über Pressemedien, sondern über WhatsApp-Gruppen, in denen oft andere Inhalte bis hin zu Verschwörungstheorien kursieren.

Zur Zeit der Bankenkrise hat Angela Merkel von der marktkonformen Demokratie gesprochen, jetzt könnte man argumentieren: Sie ruiniert den Markt, um Leben zu retten. Ist sie bekehrt worden?

Alles andere wäre demokratisch und moralisch nicht tragfähig. Wichtig ist, dass in der Folge wirklich alles getan wird, um den Gesundheitssektor zu stützen. Sie hat in ihrer Rede unmissverständlich klar gemacht, wie ernst die Lage ist. Sie hat nicht explizit gesagt, was sie tun wird, wenn die Distanzierung nicht funktioniert, aber es angedeutet.

Sie gehen heute nochmal spazieren, weil Sie fürchten, dass Sie das morgen nicht mehr tun können?

Ich sehe immer noch viele Leute auf den Straßen. Es ist ja auch eine surreale Situation. Der Himmel ist blau, die Jugendlichen reden nicht von Heimunterricht, sondern von Corona-Ferien und treffen sich zu Partys im Park. Die Frage ist, wie gehen wir mit denen um, die abweichendes Verhalten zeigen? Werden die sozial gebrandmarkt? Ich habe das Gefühl, dass die Situation in vielen Supermärkten sehr angespannt ist. Vielleicht war die Rede von Merkel für viele auch so ein Erweckungserlebnis.

1996 gab es diesen großen Flughafenbrand in Düsseldorf. Danach sind für Milliarden an allen Gebäuden zweite Fluchtwege geschaffen worden. Wo wird nach dieser Krise investiert werden?

Die Digitalisierung wird an Fahrt gewinnen. Es ist klar geworden, dass wir in Deutschland noch nicht fähig sind, online Lehre anzubieten, Behördengänge und vieles andere mehr. Da erwarte ich einen riesigen Schub vor allem auch im Bereich Weiterbildung. Ich möchte mir dann aber ein Szenario nicht ausmalen: Dass wir gleichzeitig mit einem analogen und einem Computervirus in öffentlichen Netzen konfrontiert sind. Wir werden lernen müssen, dass wir uns immun machen – gegen Viren aller Art.