Mülheim/Berlin. Hunderte junge Mülheimer verbrachten in der NS-Zeit Monate in Brandenburg, um sich aufs Arbeitsleben vorzubereiten. Ein Berliner sucht Zeitzeugen
Sie waren gerade 13, 14 oder 15 Jahre jung, die Schule lag hinter, das südliche Brandenburg vor ihnen. Jahr für Jahr ging es für Jungen und Mädchen aus Mülheim nach Zagelsdorf oder drei Kilometer weiter nach Rietdorf, um im nationalsozialistischen Landjahrlager auf das Berufsleben vorbereitet zu werden. Diese Landjahre sind in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt, dabei nahmen zig Jugendliche daran teil.
Hans-Werner Nierhaus, ehemaliger Geschichtslehrer am Otto-Pankok-Gymnasium in Mülheim berichtet in einem Artikel für das Mülheimer Jahrbuch 2007, dass zwischen 1934 und 1938 insgesamt 840 Jungen und 590 Mädchen allein aus Mülheim in diese Lager geschickt worden sind. Aus diesem Fundus hofft Robert Rausch aus Berlin, Kontakt zu Zeitzeugen zu bekommen. Er arbeitet an einer Art Lebensinventur und recherchiert seine Familiengeschichte. Er will „verstehen“ und „meinen Platz in der Familie finden“. Seine Oma war kurzzeitig Leiterin eines solchen Landjahrlagers in Zagelsdorf.
Einem Mülheimer Tageszeitungsbericht von 1974 zufolge muss es Treffen von ehemaligen Landjahrlager-Teilnehmern gegeben haben. 31 der damals 60 Frauen trafen sich 38 Jahre später wieder.
Arbeiten im Haus oder im Garten
Am 29. März 1934 trat dem Jahrbuchbericht von Hans-Werner Nierhaus zufolge das Preußische Gesetz über das Landjahr in Kraft. Hitler sah im Bauerntum eine wichtige Säule für den Wiederaufstieg Deutschlands. Die nationalsozialistische Partei NSDAP versuchte, das bäuerliche Milieu für sich zu gewinnen. Nach dem Wahlsieg der NSDAP aber war die Realität eine andere, berichtet Nierhaus in seinem Artikel. Schutzzölle, Subventionen und Einfuhrkontingentierungen konnten die Landflucht nicht verhindern, die Preise der landwirtschaftlichen Produkte stiegen. In der Idee des Landjahrs „trafen sich nationalsozialistische Absichten mit wirtschaftskonservativen Ideen, aber auch bündischen und militärischen Vorstellungen“, schreibt Hans-Werner Nierhaus. Insgeheim, erklärt er, dachten die Nazis an billige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und bezweckten einen späteren Eintritt der jungen Menschen ins Arbeitsleben – so lange, bis durch die beginnende Aufrüstung ausreichend Stellen zur Verfügung stehen. Die Mädchen lernten zum Beispiel in Haus-, Wasch- oder Gartengruppen ihr Handwerk, bei den Jungen spielte Sport eine große Rolle. Doch: „Letztendlich ging es den Nazis primär darum, die jungen Leute in ihr Herrschaftssystem einzugliedern und dabei dysfunktionales Verhalten möglichst zu minimieren“, schreibt Nierhaus.
Eine Auswahlkommission suchte die Jugendlichen, die für diese Lager infrage kamen, aus. Die Auslese begann. In einer Eltern-Broschüre hieß es: „Im Landjahr sollen sorgfältig ausgelesene Jungen und Mädchen zu verantwortungsbewussten jungen Deutschen erzogen werden, die körperlich gestählt und charaktergefestigt von dem Willen erfüllt sind, im Beruf und an jeder Stelle dem Volksganzen zu dienen.“
Die Jugendlichen rissen sich zunächst nicht darum, die Zeit von April bis Dezember in Gebäuden, Gutshäusern und auf Bauernhöfen zu verbringen. Das führte dazu, dass die Nazis Anreize boten.
Bei Mädchen wurden sechs Monate im Lager auf das Pflichtjahr angerechnet, viele Jungen seien später als Belohnung in die Fliegertechnische Vorschule aufgenommen worden, so Nierhaus. Es wurden Vergünstigungen angekündigt oder die Unterstützung bei der späteren Arbeitsstellensuche versprochen.
So ist es im Fall von Luise H. aus Mülheim passiert. Das Mädchen verletzte sich schwer am Bein, die Kosten für den Rücktransport und den Klinikaufenthalt wurden übernommen, das Arbeitsamt vermittelte ihr eine Stelle als Bürokraft bei Tengelmann.
Eltern aus Mülheim erhielten Briefe
Die Eltern in Mülheim erhielten Briefe von den Lagerleitungen. Ein Mülheimer Landjahrsachbearbeiter besuchte einmal im Jahr die Lager und schilderte den Eltern zum Beispiel, wie sehr die Jungen an Gewicht zugenommen hätten und welche Arbeit sie bei den Bauern verrichten.
Doch die Jugendlichen empfanden das Lagerleben womöglich anders. Ein Brief von Liselotte von Mai 1942 an ihre Eltern geriet in die Hände des Landjahrsachbearbeiters in Mülheim: „Wenn ein Mädel unordentlich ist, wird es bestraft, indem ihm das Essen entzogen wird“, schreibt sie. Und weiter: „Die Bauern haben gesagt, sie würden uns bedauern in der Erntezeit. Eine Frau meinte, wir wären ja wie in einem Gefängnis. Das ist ja nun ein zu krasser Ausdruck, aber aus dem Lager sind wir noch nicht oft gewesen. (...) Wir lassen uns nicht unterkriegen und bewahren Frohsinn.“
Im Laufe der Jahre nahm die Teilnehmerzahl an den Landjahrlagern ab, die Jungen wurden für den Kriegsdienst gebraucht, die Lagerleiter wurden knapp. 1944 wurden schließlich alle Landjahrmädchen aus den Lagern entlassen. Nach dem Landdienst suchten die Jungen und Mädchen Historiker Hans-Werner Nierhaus zufolge Ausbildungsplätze in der Mülheimer Industrie.
>>> Info: Der Hobbyforscher sucht noch Zeitzeugen
Robert Rausch aus Berlin hat bereits Recherchen betrieben, um auf die Spur seiner Familie zu kommen. Anhand von historischen Fotos spürte er die verschiedenen Orte in Zagelsdorf auf und sprach mit Dorfbewohnern.
Sobald er seine Recherchen abgeschlossen hat, schreibt er seine Ergebnisse zusammen und stellt sie auf Wunsch Zagelsdorf, einem Ortsteil der Stadt Dahme/Mark, zur Verfügung. Rausch selbst ist kein Historiker, sondern Angestellter der Deutschen Bahn.
Nun sucht er Zeitzeugen, die ihm berichten können, wie der Alltag in den Lagern aussah. Oder wer erinnert sich an die Ehemaligen-Treffen, die Jahre später in Mülheim stattfanden? Rauschs Großmutter U. Schauß war eine Zeit lang im Landjahrlager Zagelsdorf tätig „und leitete es wohl zumindest 1938“, schreibt er. Im September ‘38 heiratete sie und beendete ihre Tätigkeit dort.
Er ist erreichbar unter
030 - 89 7451 89 oder per Mail unter robert.rausch@posteo.de.