Mam Rashan. Noch immer leben im Nordirak mehr als eine Million Flüchtlinge. Viele von ihnen sind Jesiden. Die NRZ ruft zu Spenden für diese Menschen auf.

Vor dem großen, mächtigen Mann mit den schlohweißen Haaren steht ein kleiner Junge, zehn Jahre alt vielleicht. Er rezitiert ein Gedicht, laut, mit durchdringend heller Stimme. Es handelt von den entführten Müttern und Frauen und Schwestern und Töchtern, von dem Leid, das in diesem grauenhaften Sommer über die Jesiden hereinbrach, als der Junge noch viel kleiner war, und der große Mann schluckt und kämpft mit den Tränen. Es ist eine dieser Begegnungen im Flüchtlingscamp Mam Rashan im Norden des Irak, die Klaus Engel im Gedächtnis geblieben sind, und die der frühere Vorstandsvorsitzende des Essener Chemiegiganten Evonik als „unbeschreiblich bedrückend“ empfunden hat.

Als die Terrorbanden des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) vor fünf Jahren den Nordirak überrannten, erschütterte das Grauen, das sie über die Menschen brachten, die Welt. Hunderttausende Menschen mussten fliehen, viele von ihnen Angehörige der jesidischen Minderheit aus der Sindschar-Region, die von den Extremisten als Teufelsanbeter bezeichnet und besonders brutal verfolgt wurden. Tausende jesidische Mädchen und Frauen fielen in die Gewalt der Terroristen.

Die Opfer des IS leiden noch immer

Heute, Ende 2019, ist das Terror-Kalifat, das der IS errichtete, Geschichte. Das Interesse der Weltöffentlichkeit hat sich anderen Schauplätzen zugewandt. Die Opfer aber leiden noch immer. „Viele von ihnen haben nur ihr nacktes Leben gerettet, ihre nächsten Angehörigen verloren und werden aufgrund der fürchterlichen Demütigungen lebenslang auf psychotherapeutische Hilfe angewiesen“ sein, erzählt Engel, der im vergangenen Jahr erstmals vor Ort war.

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Der Landkreis Sheikhan in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak: An der Straße, die von der Kurdenhauptstadt Erbil nach Dohuk führt, der zweitgrößten Stadt in der Autonomieregion, liegt in die hüglige Landschaft geschmiegt das Flüchtlingscamp Mam Rashan. Von weitem schon sind die weißen Wohncontainer zu erkennen, knapp zweitausend sind es jetzt, Herberge für 9000 Menschen.

Sie haben sich hier eingerichtet, vor vielen Containern stehen Büsche und Bäume, in Käfigen gackern Hühner, einige Schafe und Ziegen streifen umher. Als Klaus Engel im Sommer 2015 Schirmherr des „Flüchtlingsdorfs Ruhrgebiet/NRW“ wurde, stand hier nichts. Er habe damals als Evonik-Chef einen „wichtigen materiellen und konkreten Beitrag leisten wollen“, um zu zeigen, dass die soziale Unternehmensverantwortung nicht nur in Unternehmensbroschüren stattfinde, erinnert sich Engel, zumal es sinnvoll sei, Fluchtursachen vor Ort anzugehen.

Engel: Wirtschaftsführer müssen Verantwortung übernehmen

Er ist überzeugt, dass „Wirtschaftsführer hierzu in persönlicher Haltung“ eine „wichtige Vorbildfunktion und besondere Verantwortung“ übernehmen sollten. Jetzt wurde aus einer Idee, die der SPD-Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel hatte, eine Kleinstadt, deren Kern das „Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet/NRW“ ist. Auf vielen Containern prangen die Namen von Städten und Unternehmen, die das Projekt unterstützt haben, die Aufschriften sind teils verwittert.

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Die Menschen warten noch immer darauf, nach Hause gehen zu können. „Auch wenn ich im Grab bin, werde ich an eure guten Taten denken“, sagt Barjas Matou Hawlou. Der alte Mann sitzt im Schneidersitz auf einer dünnen Matratze, um seinen Kopf hat er einen rot-weißen Schal geschlungen, die tiefen Falten in seinem wettergegerbten Gesicht werden glatt, wenn er lächelt, und er lacht oft, weil er sich über Besuch freut.

Natürlich gibt es heißen Tee und eine dünne Zigarette, wie immer, wenn die Deutschen wieder in dem Container sind, den die Leserinnen und Leser der NRZ gespendet haben. Seine Tochter hat mittlerweile das dritte Kind bekommen, es ist eines von über 500, die im Camp geboren wurden.

Die Jesiden können noch nicht nach Hause zurück

„Leider gibt es keine Stabilität im gesamten Land“, sinniert Herr Hawlou. Selbstverständlich möchte er gerne zurück in die Heimat, nach Tel Banat in der Sindschar-Region, wo er als Bauer gearbeitet hat. Aber da sind eben noch immer die Minen, da ist die zerstörte Infrastruktur, da sind die Massengräber, die daran erinnern, welches Leid seinen Leuten angetan wurde. Und das Chaos, das in Sindschar herrscht, unterschiedliche Gruppen, die um Einfluss ringen, die türkische Luftwaffe, die dort bombt, weil sie in der Region Guerillas der PKK vermutet, die sporadischen Angriffe versprengter IS-Kämpfer.

Klaus Engel (dritter von links) im Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet/NRW.
Klaus Engel (dritter von links) im Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet/NRW. © NRZ

Also bleiben Herr Hawlou und seine Familie im Camp. Sie sind nicht allein. Noch beherbergen die Flüchtlingscamps im Nordirak, eine Region ähnlich groß wie Nordrhein-Westfalen, 1,1 Millionen Menschen, ein Drittel von ihnen sind Jesiden.

Über 100.000 haben seit jenem verhängnisvollen Sommer im Jahr 2014 das Land verlassen. Sie sind nach Deutschland gegangen, nach Australien oder in die USA. „Die Lage in den Camps ist prekär“, räumt Farhad Atrushi ein, der Gouverneur der Provinz Dohuk, außerdem sei die Vielzahl der Flüchtlinge eine Belastung für Verwaltung und Bevölkerung, die in den vergangenen Jahren durch den Kampf gegen den IS und Haushalts-Streitigkeiten mit der Zentralregierung in Bagdad massiv unter Druck stand.

Es ärgert den hochaufgewachsenen Mann, dass so viele Hilfsorganisationen Kurdistan verlassen haben, seit der mediale Fokus weg ist. Dabei bleibt viel zu tun, auch im „Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet/NRW“. In den vergangenen Wochen hat die Caritas Flüchtlingshilfe Essen (CFE) dort eine landwirtschaftliche Kooperative errichtet, wenn die Menschen schon nicht nach Hause gehen können, sollen sie zumindest wirtschaftliche Perspektiven haben. Weitere Gewächshäuser würden dem Projekt helfen.

Für Klaus Engel ist klar: Die „materielle Unterstützung durch die Zivilgesellschaft ist unverzichtbar und muss verstärkt werden“. Auch deswegen, weil die Region noch immer ein „politisches Pulverfass“ sei. Neue Flüchtlingsströme Richtung Deutschland hält Engel für vorstellbar: „Deshalb lohnt sich jedwedes humanitäre und politische Engagement, um dieses Szenario zu verhindern.“

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Die NRZ hat das Flüchtlingsdorf Ruhrgebiet/NRW in den vergangenen Jahren immer wieder unterstützt. Auch in diesem Jahr rufen wir zu Spenden auf, mit denen die Caritas Flüchtlingshilfe Essen Projekte für Flüchtlinge im Nordirak umsetzen kann. Konkret: für Gewächshäuser, um Jobs zu schaffen, aber auch für Nothilfe für die Menschen, die vor dem jüngsten türkischen Angriffskrieg in Nordsyrien fliehen mussten. Sie brauchen Kleidung und Decken für den Winter.

Caritas Flüchtlingshilfe Essen, Bank im Bistum Essen, DE45 3606 0295 0000 1026 28, Stichwort: Nordirak