Essen/Leipzig. Rüdiger Baege nahm an den Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen in Leipzig teil. Nach der Wende zog er nach Essen ins Ruhrgebiet.

Die Wende geschah für Rüdiger Baege und 70.000 andere Menschen, die in Leipzig mit demonstrierten, schon am 9. Oktober 1989. „Nie werde ich vergessen, wie wir an diesem Montag mit Kerzen aus der Nikolaikirche in die Innenstadt gezogen sind, Friedenslieder gesungen und ‘Wir sind das Volk’ gerufen haben“, erinnert sich Baege. Überall wimmelte es von bewaffneten Sicherheitskräften und Stasi-Mitarbeitern, aber die Friedliche Revolution war nicht mehr aufzuhalten.

Damit trugen die Demonstranten entscheidend zum Sturz des DDR-Regimes bei – und Rüdiger Baege, der heute in Essen-Bochold lebt, war mittendrin. Die Erinnerungen bewegen den 65-Jährigen heute noch. „Dabei waren die Friedensgebete in der Nikolaikirche und die Montagsdemonstrationen anfangs ausschließlich der Wunsch nach Reformen und Öffnung“, erklärt Baege.

DDR war trotzdem Heimat für ihn und seine Familie

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Seit 1982 beteten hier die Menschen für Abrüstung, Frieden und Menschenrechte, ab 1988 versammelten sich jeden Montag immer mehr Menschen auf dem Nikolaikirchhof. Bald fanden Versammlungen auch auf anderen Plätzen und in anderen Städten der DDR statt. Baege, der immer in evangelischen Gruppen aktiv war, erlebte den Wandel der Bewegung hautnah. „Wir bekamen natürlich mit, dass immer mehr Bekannte über Ungarn ausreisten, dass viele unzufrieden waren, dass Wahlbetrug nachgewiesen wurde und die westdeutschen Botschaften von Ostdeutschen besetzt wurden“, schildert er.

Die DDR sei aber trotzdem die Heimat seiner Familie gewesen, „das Land, in dem wir bleiben wollten. Wir haben keinen Ausreiseantrag gestellt.“

Stasi habe ihn anwerben wollen - Nachbarn wurden befragt

Sie hätten sich für eine demokratischere und friedlichere DDR eingesetzt. „Ich dachte, wir können ja nicht alle weglaufen, es muss hier vor Ort etwas passieren“, so Baege, der 1955 in Halle an der Saale geboren wurde und nach dem Maschinenbau-Studium in Magdeburg 1980 nach Leipzig zog. „Wir lebten in einem Unrechtsstaat, einer Diktatur und waren unfrei, aber als Familie waren wir trotzdem glücklich“, erzählt der 65-Jährige. Das zu verstehen, sei vielen Menschen aus dem Westen schwergefallen. „Das war ja auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich.“ Sein Bruder beispielsweise habe das System nicht ertragen, habe schon 1980 einen Ausreiseantrag gestellt, der auch genehmigt wurde.

Baege war klar, dass Stasi-Mitarbeiter überall waren – die Akte hat er sich zuschicken lassen. „Die Momente in meinem Leben, in denen ich besonders kritisch war, haben sie anscheinend aber gar nicht bemerkt“, sagt er und deutet auf die vielen, teilweise geschwärzten Seiten. Während seiner Pflicht-Zeit in der Volksarmee habe ihn die Stasi als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) anwerben wollen. „Das wollte ich natürlich auf keinen Fall.“ Seine Akte gibt auch preis, dass seine Nachbarn zu seinen Tätigkeiten in kirchlichen Gruppen befragt wurden.

Montagsdemonstrationen: Einer sollte bei den Kindern bleiben

Dabei, meint Baege, sei er nie ein Dissident in der ersten Reihe gewesen. „Ich hatte eine Familie mit drei kleinen Kindern, ich hatte Angst, das ist doch klar“, sagt er. „Ich hatte Mut genug, um zu den Friedensgebeten zu gehen, aber Angst, an vorderster Front zu stehen. Wir wussten ja nicht, was passieren würde.“ Nie gingen seine Frau Hiltrud und er gemeinsam zu den Montagsdemonstrationen. „Einer von uns sollte immer bei den Kindern sein.“ So auch am 9. Oktober 1989: „Es drohte ein Massaker, aber 70.000 Menschen sind hingegangen. Ich auch.“ Es seien eben die kleinen Dinge, die jeder machen könnte. „Bitte, bitte, gib auf dich acht. Ich bin in Gedanken bei dir“, schrieb Hiltrud Baege ihm auf einen Zettel, den er noch heute besitzt.

Basteln in der Leipziger Nikolaikirche: Rüdiger Baege zeigt, wie seine Familie im Advent 1989, kurz nach dem Mauerfall, die Vorweihnachtszeit erlebte. Von der Nikolaikirche gingen die Demonstrationen aus.
Basteln in der Leipziger Nikolaikirche: Rüdiger Baege zeigt, wie seine Familie im Advent 1989, kurz nach dem Mauerfall, die Vorweihnachtszeit erlebte. Von der Nikolaikirche gingen die Demonstrationen aus. © FUNKE Foto Services | Julia Tillmann

Alles blieb friedlich, einen Monat später fiel die Mauer. „Was passiert ist, ist ein Wunder. Jeder Einzelne, der seine Angst überwand, hat zum Zusammenbruch dieses Systems beigetragen“, sagt Baege. Nur danach sei einiges nicht gut gelaufen. „Ich hätte mir ein vereinigtes Deutschland gewünscht, in dem sich beide Systeme entgegengekommen wären.“ So sei die DDR der Bundesrepublik beigetreten. „Das ist vielen Ostdeutschen damals aufgestoßen und hat sie überrumpelt.“ Was man jetzt in manchen Bundesländern im Osten erlebe, sei die Folge einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit seit dem Zweiten Weltkrieg.

Familie machte sich die Entscheidung nicht leicht

„Nach der Wende habe ich im Unterschied zu manchen anderen richtig viel Glück gehabt“, sagt Baege. Eine westdeutsche Firma kaufte das Umwelttechnik-Unternehmen, in dem er arbeitete, zwar auf. Von 400 Mitarbeitern wurden nur 70 übernommen, Baege gehörte dazu. Er hatte einen unbefristeten Vertrag. So blieb er auch bei den folgenden Sparrunden immer wieder verschont, bis 1996 der Standort in Leipzig ganz dicht gemacht wurde. „Ich habe unzählige Bewerbungen geschrieben, aber Mitte der 90er war es selbst gut ausgebildet sehr, sehr schwierig im Osten Arbeit zu finden“, schildert der 65-Jährige.

Kegelclub- Vom Niederrhein ins Berlin im AusnahmezustandDie einzige Möglichkeit: Der Firma nach Essen zu folgen, wo sich der neue Hauptsitz befand. Die Familie machte sich die Entscheidung nicht leicht, zögerte lange. „Das war für uns die wohl härteste Zeit, es sind sehr viele Tränen geflossen“, sagt Baege. Gerade um seine drei Kinder, damals alle im Teenageralter, habe er sich große Sorgen gemacht. „Die Umstellung war enorm für sie. Wir waren ja alle sehr verwurzelt in Leipzig, unsere Familien kamen beide aus Halle.“

Kinder wollten wieder zurück nach Leipzig

Zwei Jahre habe es gedauert, bis sie so richtig angekommen waren, obwohl sie sich im neuen Haus in Essen-Bochold sofort wohlfühlten. „Das Ruhrgebiet hat uns sofort willkommen geheißen, man merkt einfach, dass das ein Schmelztiegel der Kulturen ist“, erzählt er. Nie seien ihnen Vorurteile oder Diskriminierungen begegnet. „Das hat uns schon sehr geholfen und auch, dass wir sofort Anschluss in der evangelischen Gemeinde und Musikvereinen gefunden haben.“ Die drei Kinder beschlossen trotzdem: Nach der Schule gehen wir alle wieder zurück nach Leipzig.

Der 9. November 1989 änderte alles – Bilder vom Mauerfall

Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer den Ostteil vom Westteil der Stadt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 wurde die Mauer geöffnet. Die Menschen ...
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer den Ostteil vom Westteil der Stadt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 wurde die Mauer geöffnet. Die Menschen ... © dpa
... kamen in Massen nach Westberlin und feierten ihre neue Freiheit. Im Laufe der ...
... kamen in Massen nach Westberlin und feierten ihre neue Freiheit. Im Laufe der ... © dpa
... nächsten Tage kamen immer mehr Ostberliner nach West-Berlin.
... nächsten Tage kamen immer mehr Ostberliner nach West-Berlin. © IMAGO
Freudentränen an der Grenze.
Freudentränen an der Grenze. © IMAGO
West-Berliner versuchten mit Hämmern, Kreuzhacken und den bloßen Händen die Berliner Mauer einzureißen.
West-Berliner versuchten mit Hämmern, Kreuzhacken und den bloßen Händen die Berliner Mauer einzureißen. © dpa
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Schlagbäume an der offenen Grenze zwischen Ost und West verloren am frühen Morgen des 10. Novembers ihre Bedeutung.
Schlagbäume an der offenen Grenze zwischen Ost und West verloren am frühen Morgen des 10. Novembers ihre Bedeutung. © dpa
Blumen zur Begrüßung: Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall.
Blumen zur Begrüßung: Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © IMAGO
Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall.
Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © IMAGO
Auf der West-Berliner Seite tummelten sich nach dem Mauerfall Fotografen und Kameraleute aus der ganzen Welt.
Auf der West-Berliner Seite tummelten sich nach dem Mauerfall Fotografen und Kameraleute aus der ganzen Welt. © dpa
"Trabi-Kolonne" in Westberlin. Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © dpa
Blumen für die DDR-Grenzsoldaten von einem West-Berliner Polizisten.
Blumen für die DDR-Grenzsoldaten von einem West-Berliner Polizisten. © dpa
Weg in die Freiheit: In Massen kletterten die Menschen über die Berliner Mauer, um nach West-Berlin zu kommen.
Weg in die Freiheit: In Massen kletterten die Menschen über die Berliner Mauer, um nach West-Berlin zu kommen. © IMAGO
Menschenmassen am Grenzübergang Bernauer Straße in Berlin: Millionen DDR-Bürger reisten nach Öffnung der Mauer für einen kurzen Besuch in den Westen.
Menschenmassen am Grenzübergang Bernauer Straße in Berlin: Millionen DDR-Bürger reisten nach Öffnung der Mauer für einen kurzen Besuch in den Westen. © dpa
Schlange stehen für das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM, das die DDR-Bürger erhielten.
Schlange stehen für das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM, das die DDR-Bürger erhielten. © IMAGO
Bananen für den Osten: Am Tag nach der Maueröffnung nutzten einige DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld zum Einkauf von exotischen Südfrüchten.
Bananen für den Osten: Am Tag nach der Maueröffnung nutzten einige DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld zum Einkauf von exotischen Südfrüchten. © IMAGO
Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor im Jahre 1989.
Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor im Jahre 1989. © IMAGO
Kein Grenzposten konnte die Menschenmassen noch aufhalten.
Kein Grenzposten konnte die Menschenmassen noch aufhalten. © IMAGO
Als die Mauer offen war, brach Jubel unter den DDR-Bürgern aus.
Als die Mauer offen war, brach Jubel unter den DDR-Bürgern aus. © IMAGO
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer Ost- und Westberlin.
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer Ost- und Westberlin. © IMAGO
Nach Öffnung der Mauer eroberten die DDR-Bürger den Kurfürstendamm in Berlin.
Nach Öffnung der Mauer eroberten die DDR-Bürger den Kurfürstendamm in Berlin. © IMAGO
DDR-Grenzwachen vor dem Brandenburger Tor, wenige Tage vor dem Fall der Mauer. Zu dem Zeitpunkt kam hier noch niemand durch.
DDR-Grenzwachen vor dem Brandenburger Tor, wenige Tage vor dem Fall der Mauer. Zu dem Zeitpunkt kam hier noch niemand durch. © IMAGO
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Heute leben, studieren und arbeiten sie alle im Ruhrgebiet. „Erst wollten wir nie in den Westen. Und heute wollen wir alle nicht mehr weg“, erzählt der Essener schmunzelnd.

Freiheit ist noch immer ein großes Geschenk

Auch für ihn und seine Frau kommt eine Rückkehr nicht mehr in Frage. „Wir haben hier ein dichtes Freundesnetz aufgebaut, fahren aber immer noch gerne zu unseren Bekannten in Leipzig“, so Baege. Am liebsten erkundete Baege mit Freunden in den vergangenen Monaten das sogenannte „Grüne Band“, den fast 1400 Kilometer langen Streifen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Er zieht sich von Travemünde an der Ostsee bis zum Dreiländereck bei Hof in Bayern.

Die Freiheit, die mit der Wende kam, ist für Baege trotz aller Herausforderungen immer noch ein großes Geschenk. „Manchmal, wenn wir über die Grenze nach Österreich oder in die Niederlande fahren, kommt uns das immer noch unwirklich vor, weil es so lange unvorstellbar war.“