Essen. Matthias Maruhn hat 80 Jahre nach Kriegsbeginn ein düsteres Familiengeheimnis entdeckt. Dabei spielt sein Onkel Richard eine große Rolle.

Mein verstorbener Onkel Bruno war stets ein Freund der klaren Kante: „Krieg ist ein Dreckskerl, mein Junge. Eine einzige Scheiße.“ Er musste es wissen, er hatte ihn erlebt, den 2. Weltkrieg, der jetzt am 1. September vor 80 Jahren mit dem Überfall der Deutschen auf Polen begann. Ich wurde zwar erst zwölf Jahre nach seinem Ende geboren, aber dieses tiefe Tal der Menschheitsgeschichte und die Wege dort unten, über die auch meine Familie irrte, haben mich ein Leben lang beschäftigt. Als Knirps wollte ich wissen, warum Papa zwei Bauchnabel hat. Ach, ein Granatsplitter, erfuhr ich. Warum habe ich nur einen Opa? Ach, der andere wurde erschossen. Und so weiter. Erst jetzt habe ich wieder so eine verrückte Geschichte gehört. Ein Familiengeheimnis. Ich verrate es.

Dazu muss ich aber Lothar vorstellen. Lothar Maruhn, 81 Jahre alt, er lebt in Düsseldorf. Sein Vater und mein Großvater waren Brüder, Hermann und Ernst, beide sind 1945 gestorben. Lothar, du bist Jahrgang 38, hast du deinen Vater überhaupt bewusst erlebt? „Nur auf Heimaturlaub. Zwei Erinnerungen: Bei der Heuernte in Bartenstein, das lag in Ostpreußen, fuhr Vater den Leiterwagen. Wir Jungs oben auf dem Fuder. Ein Zug pfiff, die Pferde gingen durch, der Wagen kippte um und ich stürzte vier Meter tief. Nichts passiert. Vater lachte. Wir beide lachten. Oder: Vater war schon unterwegs zurück zur Front, da bemerkte Mutter, dass er seinen Säbel vergessen hatte. Opa sprang aufs Pferd und galoppierte hinter dem Zug her. Irgendwie schaffte er es, dass Vater den Säbel noch bekam.“

Das letzte Zeichen: Eine Feldpostkarte

Dann kam Hermann nicht mehr heim. „Das letzte Zeichen von ihm war Ende 44 eine Feldpostkarte: Der Krieg ist verloren. Flieht… Mutter nahm das ernst. Wir entkamen mit dem Zug und dann mit einem Schiff von Pillau über die Ostsee.“ Kein Torpedo, keine Mine. Die Flucht gelingt.

Jetzt kommt Onkel Richard ins Spiel, der einzige der Maruhn-Brüder, der überlebt hatte, weil er beim Krupp Fahrzeugbau in Berlin so unabkömmlich war, dass er nicht an die Front musste. „Er und Tante Elly nahmen mich zu sich, um Mutter zu entlasten. Ich ging zur Schule, mir ging es richtig gut, wir gehörten zu den wenigen, die genug zu essen hatten. Und Onkel Richard forschte nach, was aus Vater geworden war. Wir erfuhren, dass er im Gefangenenlager im lettischen Libau gestorben war. Richard wollte mehr wissen, sprach mit anderen Gefangenen und erfuhr: Mein Vater ist verhungert. Die Russen haben ihm nichts mehr gegeben, nachdem ein Mitgefangener ihn beschuldigt hatte, früher im Krieg Russen misshandelt zu haben. Der Mann hatte mehrere Kameraden angeschwärzt, offenbar, um selbst schneller in Freiheit zu kommen.“

Vorsatz? Rache?

Onkel Richard wartet, bis dieser Mann dann 1950 tatsächlich freikommt. Er verabredet sich mit ihm, um die Dinge mal zu besprechen. Und er erschießt diesen Mann. Mit einem Revolver, den er schon in der Tasche hatte. Vorsatz? Rache? Dann ist es Mord. Richard stellt sich, kommt vor Gericht und findet Richter, die sein Tun verstehen. Eine Bewährungsstrafe.

Gerecht? Wir wissen zu wenig, sagt Lothar. Richard stirbt 1961 an einem Herzinfarkt. Lothar und ich wollen uns bald wieder treffen. Von Ostpreußen soll er mir erzählen. Und dann werden wir doch wieder von ihm reden. Vom Krieg. Dieser Dreckskerl ist eine Klette. Auch nach 80 Jahren.