Mülheim. Der Ökologe Helmut Kessler erklärt, welche Insektenarten nur noch selten zu sehen sind. 50 Prozent des Bestands in NRW gilt als gefährdet.

Die Zahl der Insekten in NRW sinkt, das ist schon lange bekannt. Aber sichere Informationen zur Bestandssituation, also zur Verbreitung, zur Bestandsgröße und -entwicklung, liegen laut Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (Lanuv) nur für 3000 Insektenarten in NRW vor. Es gibt jedoch hierzulande 9000 Arten. 50 Prozent davon sind gefährdet und werden in der Roten Liste aufgeführt, einige sind sogar schon ausgestorben. Eine neue Rote Liste zum Insektenrückgang gibt der Lanuv 2020 heraus. Fakt ist aber: bei vielen Arten ist weitgehend unbekannt, wie es ihnen geht, weil Experten und standardisierte Untersuchungsprogramme fehlen. Diplom-Ökologe Helmut Kessler interessiert sich vor allem für die Insektenarten, die vielen nicht bekannt sind. „Bienen beispielsweise sind sehr gut erforscht, aber es gibt eine riesige Vielfalt anderer Arten, die wesentlich gefährdeter ist und deren Zustand den meisten Menschen gar nicht bewusst ist“, sagt der Mülheimer.

Da sei zum Beispiel die Langhaarige Dolchwanze, die bis zu neun Millimeter lang ist, und dort lebt, wo Gras wächst. „Bei Wanzen denken die meisten an die unbeliebten Bettwanzen, die nachts Blut an Menschen und Haustieren saugen“, erklärt Kessler. „Die Dolchwanze ist aber harmlos und auch kein Schädling.“ Sie sitzen an den Ähren der Gräser und saugen den Pflanzensaft, nach der Paarung im Sommer legen die Weibchen ihre Eier in den Hohlraum der Grashalme. Im nächsten Frühjahr, so erklärt Kessler, schlüpfen dann die Wanzen. „Dafür ist es aber notwendig, dass die Wiesenflächen das ganze Jahr nicht gemäht werden“, sagt er. „Denn von der Eiablage im Spätsommer bis zum Schlüpfen im Mai entwickelt sich die Wanze im Grashalm.“

Tagpfauenauge kaum noch zu sehen

Die langhaarige Dolchwanze braucht Wiesen, die nicht gemäht werden.
Die langhaarige Dolchwanze braucht Wiesen, die nicht gemäht werden. © Helmut Kessler | Helmut Kessler

Kessler beschäftigt sich als Diplom-Ökologe auch fotografisch viel mit Insekten und stellte seine Bilder bereits im Mülheimer Medienhaus unter dem Thema „Insekten - gefährdete Vielfalt - was nun?“ aus. Er studierte zunächst Biologie und Kunst auf Lehramt, sattelte dann aber noch einmal um und studierte Ökologie. „Während des Studiums war ich naturgemäß viel im Gelände unterwegs und habe da meine Leidenschaft für Insekten entwickelt“, erzählt er. Seit Jahren alarmieren den Ökologen die Studien über das Insektensterben, zumal er den Schwund selbst beobachtet. „Das Tagpfauenauge, eine Schmetterlingsart, ist hierzulande beispielsweise kaum noch zu sehen“, so der Mülheimer.

Dabei blüht seit einigen Wochen wieder der Schmetterlingsflieder, ein Strauch, dessen lange Blütenstände viele Insekten anlockt. „Noch vor einigen Jahren konnte ich häufig Tagpfauenaugen auf den Fliedern beobachten. Heute allerdings finden sich zum Beispiel auch entlang des Radschnellwegs nur sehr selten einzelne Falter auf den Blüten“, bedauert er.

Nicht genügend Brennnesseln mehr

Am Nektarmangel liege das nicht. „Was den Faltern fehlt, sind auch geeignete Strukturen für ihre Fortpflanzung, also für die Eiablage, die Raupen und die Puppen“, so der Experte. Denn wenn im näheren Umfeld keine Brennnesseln wachsen, kann sich das Tagpfauenauge nicht vermehren, da sich die Raupen ausschließlich von Brennnesseln ernähren. „Gleiches gilt für die Art Kleiner Fuchs“, so Kessler. Brennnesseln seien aber nirgendwo gerne gesehen, schon gar nicht in Gärten und Parkanlagen, und würden deswegen fast immer abgemäht. Von den etwa 1700 Schmetterlingsarten in NRW, inklusive der Tagfalter, sind 55 Prozent gefährdet.

Auch die Hummeln sind bedroht: Im Sommer finden viele Spaziergänger immer wieder tote Hummeln unter Linden oder unter Lavendelsträuchen. Das, so der Nabu, liege daran, dass die Linden noch dann blühen, wenn die meisten anderen Pflanzen schon verblüht sind und sie somit eine der letzten Futterquellen für Hummeln sind. Sie konzentrieren sich dann auf die spät blühenden Linden, haben aber aufgrund des mangelnden Angebots eine große Konkurrenz durch andere Insekten. Hummeln brauchen aber ein vielfältiges Angebot aus Blumen und Pflanzen, damit sie sich fortpflanzen und überleben können.

Zweiter Teil des Insektensommers

Der Nabu will mit dem zweiten Teil des Projekts „Insektensommer“, das noch bis zum 11. August dauert, auf die Gefährdung hinweisen und die kontinuierliche Erfassung der Insekten etablieren. Dabei sollen auch Heuschrecken und Libellen im Mittelpunkt stehen, erklärt Birgit Königs, Sprecherin des Naturschutzbundes in NRW. 54 Heuschrecken-Arten gibt es hierzulande, 48 Prozent davon sind gefährdet, bei der Libelle sind es 73 Arten, 45 Prozent gelten als gefährdet. „Die Libellen sind so bedroht, weil viele Gewässer eutrophiert sind, das heißt überdüngt sind oder einen erhöhten Nährstoffgehalt haben“, so Königs. Hinzu kämen die bereits bekannten Ursachen, beispielsweise die übermäßige Nutzung von Pestiziden und Chemikalien sowie der fehlende Lebensraum.

„Insekten gehören zu unserer Lebensgrundlage“

Kessler, der seit 1993 mit seinem Büro in ganz Deutschland Ausstellungsflächen und Inhalte vor allem für Museen mit Umweltbezug konzipiert, sieht auch die intensivierte Landwirtschaft und Besiedlung als Ursache. „Es sind schlicht nicht mehr genug Flächen da.“ Aber auch Lichtverschmutzung und die intensivierte Nutzung von Brachflächen, auf denen sich Insekten und andere Tiere ihren Lebensraum geschaffen hatten, spielten eine Rolle. Da, so Kessler, sei noch viel mehr Bildung und Initiative von jedem einzelnen für mehr Wildwuchs notwendig. „Die Insekten gehören schließlich zu unserer Lebensgrundlage.“