Ich will die Hoheit über mein Hirn zurück. Videos sind das neue Voodoo: Fremde foltern uns mit Bildern von Katzen, Super-Kindern und Politclowns.

Schon beim Schreiben genieße ich das: Die Buchstaben halten still. Einmal angetippt, bleiben sie, wo sie sind. Das ist nicht mehr selbstverständlich. Die Erde hat sich immer gedreht, aber jetzt zappelt sie. Dauernd müssen wir Videos anschauen. Abstürzende Katzen, zu Recht wütende Jugendliche mit blauem Haar, Schlagzeug spielende Dreijährige. Kann mal jemand diesen falschen Film anhalten?

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Voriges Jahr hatten wir Besuch von einem Freund aus England. Er saß auf unserer Terrasse und checkte auf dem Smartphone, was es Neues von der Insel gab. Nach zwei Minuten platzte dem sonst so entspannten Pete der Kragen: „I want news, I want sentences, no damn videos!“ Ich will Nachrichten, Sätze, keine verdammten Videos. Auf Englisch klingt alles weltmännischer. Das beruhigt. Ich bin nicht der letzte lesende Dinosaurier aus der niederrheinischen Provinz. Londoner sind auch nicht amüsiert über den Filmchen-Fimmel.

Optik-Opfer mit diesem leeren Blick

An jeder Ecke zwingen sich Menschen gegenseitig ihre Handys mit „Musse-dir-anschauen!“-Videos unter die Nase. Die Optik-Opfer haben diesen leeren Blick, den man von Dia-Abenden aus den 70ern kennt. Nach 5000 Dias darf man aufstehen und gehen. Videos sind Stalker. Sie folgen dir in den tiefsten, herrlich autistischen Ohrensessel.

Irgendwer schickt über Whatsapp garantiert „drei Minuten Meeresrauschen zur Entspannung!“. Wie schön wäre eine reglose Postkarte. Selbst träge Objekte müssen online in Bewegung gepeitscht werden. Die Internet-Kaufhäuser stellen jetzt jedes T-Shirt mit einem kurzen Film vor. Wird es zum Kassenschlager, folgt wahrscheinlich ein Prequel.

Worum geht's hier eigentlich?

Maike Maibaum schreibt seit Jahren die Kolumne „geschenkt“: Die NRZ-Redakteurin und Mutter von zwei Kindern ist Expertin für den alltäglichen Wahnsinn im Familienleben. Sie lästert jede Woche lustig über ihre Lieben und die wildgewordene Welt. Zwei Bücher mit den besten Geschichten („Geschenkt“, „Noch mehr geschenkt“) sind im Klartext-Verlag erschienen, illustriert vom preisgekrönten Karikaturisten Thomas Plaßmann.

Ich will kein T-Shirt vorgetanzt haben. Und der Meeres-Mitschnitt aus fremden Urlauben macht nervös. Während ich Wellen aus der Konserve gucke, rauscht draußen das Leben vorbei. Videos praktizieren westliches Voodoo. Statt Nadeln in Stoffpüppchen zu bohren, pinnt man uns mit Katzen, Kindern und Polit-Clowns im Sessel fest. Sind Videos das billig verschnittene Opium fürs Volk? Ich fordere die Hoheit über mein Hirn zurück.

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Plagt mich eine Film-Phobie? Im Gegenteil. Ich stamme aus einer Generation, die das bewegte Bild zelebriert hat. Film ist, wenn die ganze Familie nach der Tagesschau auf dem Sofa sitzt. Heute hängt jeder irgendwo und glotzt irgendwas. Alles ist filmreif, die Welt geschieht durch die Kamera. Ich müsste mich anpassen. Schreibe keine Geschichten mehr, filme meine Familie nur ab und stelle sie auf Youtube. Den Mann beim Grillen (sechs Stunden), die Kinder beim Unordnung machen (24/7). Bin nicht sicher, ob wir so viele Klicks kriegen wie die Kardashians. Würde mich aber freuen, wenn Sie mir statt der netten Leserbriefe ein Video von Ihrem herzhaften Gähnen (3 Minuten) schickten.