Köln. . Florian Lintz wird als Bildungsfachkraft die Inklusion in NRW voran bringen. Denn niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Sätze, die treffen: „Ich bin nicht behindert genug, mich mit allem zufrieden zu geben“, sagt Florian Lintz. „Aber ich bin eben auch nicht so wie andere Menschen. Ich bin dazwischen.“ Wir sitzen in der Teestube der Technischen Universität in Köln, und Florian Lintz hat gerade einen anstrengenden Seminartag über das nordrhein-westfälische Bildungswesen hinter sich. Gemeinsam mit sechs behinderten Mitschülern wurde er ausgewählt, um am Institut für Inklusive Bildung NRW zur Bildungsfachkraft ausgebildet zu werden, ein Projekt des Landschaftsverbands Rheinland (LVR).

Die ersten NRW-Bildungsfachkräfte sollen nicht nur die Inklusion an den Universitäten des Landes voranbringen. Nach absolvierter dreijähriger Ausbildung wird Florian Lintz als Berater und Dozent arbeiten – für Lehramtsstudenten, Juristen, Ärzte oder angehende Sozialarbeiter, für all jene, die in ihrem Berufsalltag mit behinderten Menschen zu tun haben. Ein Vollzeit-Job auf dem ersten Arbeitsmarkt – dass das heute möglich ist, ist auch einem 1994 hinzugefügten Absatz des Grundgesetz-Artikels 3 zu verdanken: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.

Das meiste hat er sich selbst erarbeitet

Florian Lintz ist 28 Jahre alt, nur wenige Jahre älter als jener Gleichheitssatz, dem er und seine Mitstreiter für Inklusion einiges zu verdanken haben. Das meiste jedoch hat er sich selbst erarbeitet, mit seiner Beharrlichkeit, sich nicht mit dem, was man ihm als vermeintlich Behinderten zubilligt, zufrieden zu geben: „Ich habe immer schon gewusst, dass ich mehr aus mir machen will als die Werkstatt!“, sagt er.

Lintz wurde 1990 geboren, unter der Geburt erlitt er einen Sauerstoffmangel: „Mein Gehirn blieb minutenlang unterversorgt“, erzählt er. Daraus resultierten ein frühkindlicher Hirnschaden, eine Spastik, die sich feinmotorisch auswirkt, und ein Stempel: körperlich und geistig behindert. „Eigentlich“, sagt Florian Lintz, „war bei mir alles immer nur zeitversetzt. Ich habe später laufen oder sprechen gelernt, bin auch heute langsamer als normale Menschen. Oder als das, was die Mehrheit als normal empfindet...“.

Lintz besuchte in seinem Heimatort Soest einen Kindergarten für behinderte Kinder und eine Förderschule für Schüler mit körperlichen und motorischen Entwicklungsdefiziten. „Ich wäre gern in eine inklusive Schule gegangen“, sagt er. „Aber damals war die Gesellschaft noch nicht so weit“. Er macht einen Hauptschulabschluss, dann an einem Kolleg einen Wirtschafts- und Verwaltungsabschluss. Doch als es darum geht, einen Job zu finden, muss sein Berater bei der Arbeitsagentur passen: „Er sagte, ich sei einfach zu langsam, um eine normale Tätigkeit auszuüben.“

Im Heimatort wird er gemobbt

Florian Lintz hat das Gefühl, in einer Schublade zu stecken, aus der er nicht herauskommt. In seinem Heimatort wird er von Gleichaltrigen gemobbt – „Hatten deine Eltern eigentlich nichts besseres zu tun...“ – und durch seinen jüngeren Bruder wird ihm klar, „wie es gewesen wäre, als ganz normaler Jugendlicher aufzuwachsen“.

Für ihn selbst beginnt eine Odyssee durch die verschiedenen Praktika und Hilfsjobs, als Stationshelfer in einer Klinik, in der Gartenpflege, in einem Schwimmbad, als Warenverräumer in einer Werkstatt, schließlich landet er in einer orthopädischen Reha-Klinik, wo er Patienten zu den Anwendungen bringen und wieder abholen muss, Koffer transportieren, Wasserkästen verteilen.

Die Arbeit mit den zumeist alten Menschen macht ihm Spaß, nicht jedoch, dass er gehänselt und zum Laufburschen degradiert wird: „Wenn ein Patient klingelte, wurde ich als erstes hingeschickt: ‘Schau du mal nach Flo, was der wieder hat...’“.

Als die Familie nach Köln umzieht, zieht Florian Lintz mit. „Ich hatte jetzt Angst vor dem ersten Arbeitsmarkt, Angst vor dem Mobbing.“ Die Caritas in Köln hilft mit einem Job in einer Behinderten-Werkstatt in Ossendorf, Lintz verwaltet Lager und Logistik als Zulieferer für Ford. Seine Mutter und sein Job-Coach geben ihm Tipps: „Ich sollte meine Ansprüche nicht so hoch schrauben. Die Arbeit hätte viele Vorteile. Ich könnte auch früher in Rente gehen.“

Doch die Rente interessiert Florian Lintz nicht. Er will ein normales Leben, und ist in der „Parallelwelt“ der geschützten Werkstatt mit den unterschiedlichsten Kollegen und den „mangelnden Gesprächsthemen“ unglücklich und unterfordert, als sein Job-Coach die Email mit der Bewerbungsaufforderung des LVR bekommt.

„Es gibt nicht schwarz und weiß“

Der Rest ist Geschichte – Florian Lintz verfasst ein Motivationsschreiben und meistert das Bewerbungsgespräch als angehende Bildungsfachkraft vor einem siebenköpfigen Gremium, was er im Nachhinein „richtig geil“ findet. Er wird lernen, vor vielen Leuten Vorträge zu halten und als Betroffener praxisnah aus seiner Lebenswelt berichten, er wird Schulklassen und Uni-Seminare besuchen und viele Berufe kennenlernen.

Doch was er vor allem will: „Leuten ohne Handicap die Augen öffnen, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt. Nicht nur ‘behindert’ oder ‘nicht behindert’, sondern eine Vielfalt an unterschiedlichsten Menschen dazwischen!“

>>>>>>Artikel 3, Absatz 3

Der Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichberechtigung der Geschlechter und verbietet Diskriminierung und Bevorzugung aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Rasse, Religion oder Herkunft.

Der Satz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ wurde 1994 in den Absatz 3 des Artikels 3 des Grundgesetzes aufgenommen und wird somit 25 Jahre alt. Diese Änderung gilt als ein großer Erfolg der Gleichstellungsbewegung behinderter Menschen und als Wegweiser zur Inklusion.