Duisburg. . 30 Jahre lang arbeitete Seelsorger Hermann Stukenbrock im Dinslakener Gefängnis als Seelsorger. Die Schuld der Gefangenen konnte er ausblenden.

Seit 70 Jahren ist die unantastbare Menschenwürde Grundsatz der deutschen Verfassung. Grundgesetz, Artikel 1. Aus ihm folgt: Niemand hat seine Würde verwirkt, egal, was er getan hat. Dass dieser Grundsatz in Bereichen der Gesellschaft immer wieder angemahnt werden muss, hat Hermann Stukenbrock 30 Jahre lang erlebt – als Seelsorger in der JVA Duisburg-Hamborn, Zweiganstalt Dinslaken. Das Gespräch mit ihm soll am Anfang unserer Serie zum Geburtstag des Grundgesetzes stehen.

In Dinslaken sitzen Untersuchungshäftlinge und Kurzzeitgefangene ein. Seit 1998 Frauen, davor waren es Männer. Mit vielen davon hat Stukenbrock gesprochen. Die Achtung der Menschenwürde war für ihn selbst immer eine Frage der Kommunikation: „Ich habe mit jedem auf Augenhöhe gesprochen, ihn respektiert, egal, welche Schuld er trug“, sagt der heute 68-Jährige. Für diese Form des Respekts habe er sich stark gemacht, auch gegenüber Vollzugsbeamten, die sich im Umgang mit den Gefangenen im Ton vergriffen.

Seelsorger wünscht sich höheren Lohn für Gefangene

Nicht nur Stukenbrock hält die Menschenwürde gerade im Strafvollzug für schützenswert. Auch das Bundesverfassungsgericht argumentierte einige Male so. Urteile wie das von 1977, das eine bessere Bezahlung der Gefangenen festschrieb, stützten sich auf Artikel 1. „Es ist eine Frage der Würde, angemessen für sich selbst und für die Familie sorgen zu können“, meint auch der studierte Theologe, der neben der Tätigkeit in der JVA Pastoralreferent in der Gemeinde St. Dionysius in Duisburg-Walsum war.

„Leider wurde das Gesetz an einen finanziellen Vorbehalt geknüpft und deshalb bis heute nicht umgesetzt. Es bleibt dabei: Wer länger im Knast saß, bezieht im Alter Hartz IV.“ Zwar wurde der Gefängnislohn immer wieder mal erhöht. Doch entspricht er mit aktuell etwa zwölf Euro pro Tag eher einem Taschengeld. Für die Sozialversicherung bleibt da nicht mehr viel.

Auch Straftäter sollen in Würde leben

Artikel 1 steht unter dem Schutz einer Ewigkeitsklausel: Er darf vom Gesetzgeber weder abgeschafft noch verändert werden. Die grauenhaften Verbrechen der Nationalsozialisten dürfen sich nicht wiederholen – das war ein Leitgedanke beim Erarbeiten der Verfassung, die jedem Menschen in Deutschland ein würdiges Dasein garantieren soll. Auch Straftätern.

Dass viele Menschen dafür nur eingeschränkt sensibel sind, hat Stukenbrock oft erfahren: „Einmal habe ich beim Kirchentag eine Gefängniszelle nachgebaut. Die Leute sahen dann den alten Schwarz-Weiß-Fernseher und meinten: ‚Denen geht es ja viel zu gut!‘ Nicht einer sagte mal: ‚Mensch, ist das eng!‘ So etwas habe ich danach nie wieder gemacht.“

Konzentration auf zwischenmenschlichen Bereich

Auch zur Größe der Zellen hat das Bundesverfassungsgericht auf Basis der Menschenwürde geurteilt. Anfang der 2000er Jahre mussten sie deshalb in Dinslaken umbauen. Hatten sich zuvor zwei Gefangene eine acht Quadratmeter große Zelle geteilt, waren es nach dem Urteil maximal drei auf 16 Quadratmetern. „Zwischen den Zellen wurden Durchbrüche gemacht“, erinnert sich Stukenbrock. „Außerdem mussten die Nasszellen optisch abgetrennt werden. Das war vorher nicht so: Die eine aß, die andere saß daneben auf dem Klo.“

Während sich die Kirche auch politisch für die Belange der Häftlinge engagiert, konzentrierte sich Stukenbrock auf den zwischenmenschlichen Bereich. Menschen im Gefängnis bewegt besonders der Kontakt zu ihren Familien. Der ist gerade in der Untersuchungshaft erheblich eingeschränkt.

Erlaubnis zum Telefonieren

Schon ein Telefonat setzt eine Sondergenehmigung voraus. Und die – so Stukenbrocks Erfahrung – verwehrt der Untersuchungsrichter meist. „Gerade Frauen nimmt es sehr mit, nicht zu wissen wie es ihren Kindern geht. Deshalb habe ich oft Botschaften zwischen ihnen und den Angehörigen überbracht.“

Für viele Häftlinge ist auch die Erfahrung des Eingesperrtseins schwer zu verarbeiten. Gerade, wenn es das erste Mal ist. „Tötungsdelikte zum Beispiel sind in der Regel Beziehungstaten und im Affekt passiert. Das sind oft Menschen, die noch nie mit dem Gesetz in Konflikt standen. Das Gefängnis reißt sie völlig aus ihrer Lebenswelt“, so Stukenbrock. Zuhören und Verständnis zeigen war in diesen Fällen seine Aufgabe. Aber ohne Vertröstungen, ohne ein „Das wird schon wieder“.

Schuld der Gefangenen hat er stets ausgeblendet

Auch hat er erlebt, wie Gefangene am eigenen Recht auf Leben zweifeln: „Gerade nach Kindestötungen habe ich das gehört: ‚Ich habe getötet. Darf ich überhaupt noch leben?‘ Als gläubiger Christ musste ich dann Stellung beziehen und sagen: ‚Gott will das Leben, auch Ihres. Ihre Schuld wird dadurch nicht einfach weggewischt. Mit der müssen Sie jetzt leben.‘“

Die Schuld seiner Gegenüber habe er stets ausblenden können. Für sich selbst, aber auch im Umgang mit den Gefangenen: „Über das Thema habe ich nur gesprochen, wenn es von den Häftlingen ausging. Oder, wenn die eigenen Taten relativiert wurden. Sonst hat mich nur die Not der Menschen interessiert.“ Dafür erfährt er bis heute Dankbarkeit. Drei Frauen schreiben ihm immer noch Briefe. Zwei sind inhaftiert, eine ist schon lange draußen: „Sie schreibt regelmäßig, wie es ihr geht, auch von Beziehungsproblemen.“