An Rhein und Ruhr. . Kerstin Schöffler-Uylen (46) und ihre Tochter sind durch Höhen und Tiefen gegangen. Heute steht die Mutter Eltern drogenkranker Kinder zur Seite.
Es ist nicht üblich, dass eine Mutter so offen über sich und die Probleme mit dem eigenen Kind spricht. Die meisten Betroffenen würden das nicht tun, zu groß die Angst, stigmatisiert zu werden, die Scham, als Eltern versagt zu haben.
Kerstin Schöffler-Uylen schämt sich nicht. Nicht für sich, nicht für ihre Tochter, die viele Jahre drogenabhängig war. Sie wirkt abgeklärt und sagt doch zum Schluss diesen einen Satz, der ahnen lässt, was sie durchgemacht hat: „Ob ich geweint habe? Ich habe ein Meer von Tränen geweint in der Zeit, auf der Autobahn, auf Parkplätzen, zu Hause...“
Ihre Tochter ist heute 22 Jahre alt und selbst Mutter eines kleinen Sohnes, seit Schwangerschaft und Geburt ist sie „clean“, also drogenfrei, und stabil. Kerstin Schöffler-Uylen hat die Tochter „in ihre eigene Verantwortung entlassen“, ein Vorgang, dem oft ein langer Abnabelungs-Prozess der Eltern von ihren suchtkranken Kindern vorausgegangen ist. Auch ihr ist es so gegangen.
Cannabis und Amphetamine spielen eine Rolle
Seit sieben Jahren ist die 46-Jährige in der Selbsthilfe tätig, zuerst am Niederrhein, 2014 übernahm sie dort den Vorsitz in einem Elternkreis für Eltern drogenabhängiger Kinder. Heute sitzt sie im Vorstand der Arwed NRW (Arbeitsgemeinschaft der Elternkreise suchtgefährdeter und abhängiger Menschen) – eine Fachfrau, die Zahlen und Fakten schnell parat hat.
Anders als zur Hochzeit der Heroin-Ära in den späten Siebzigern, als die abstoßende und zugleich faszinierende Geschichte der Christiane F., „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, Schlagzeilen machte, scheinen Drogen heute zum Randthema geworden zu sein, Erwähnung finden lediglich die wiederkehrenden Berichte der Landes- oder Bundesdrogenbeauftragten. Dabei habe sich das Problem nicht entschärft, und ja, es gebe alles noch, die Szenen und ihre Treffs, die Beschaffungskriminalität, die Verwahrlosung und die Verwerfungen in den Familien.
Nein, Heroin spiele bei den Neu-Konsumenten heute keine große Rolle mehr, Cannabis und synthetische Drogen wie Amphetamine dagegen umso mehr, und die sind in mannigfaltiger Kombination nicht weniger gefährlich: „Man putscht sich hoch und muss dann wieder runterkommen.“
In Elternkreisen sich mal richtig aussprechen
Von zehn Jugendlichen, die phasenweise Drogen konsumieren, blieben zwei bis drei „hängen“, sie gleiten in psychische und physische Abhängigkeit. Riskantes Einstiegsalter sei zwischen 13 und 16; Jungen sind anfälliger als Mädchen. Experten gehen davon aus, dass in Deutschland etwa 600 000 Familien von Suchtproblemen der Kinder betroffen sind.
In den Elternkreisen suchen Eltern, Großeltern und Freunde Rat und Hilfe, Geschwister können hier endlich mal über sich reden, spielt doch das suchtkranke Kind sonst stets die Hauptrolle. Und man kann auch mal lachen, „wenn in der Gruppe zusammengerechnet wird, wie viele Computer und Handys unsere Kinder uns schon aus dem Haus getragen haben, um ihre Drogen zu finanzieren“.
Schöffler-Uylen und ihre Familie stammen aus einer Kleinstadt am Niederrhein, in den umliegenden Schulen, Jugendämtern, Polizeidienst- und Beratungsstellen ist sie in den vergangenen Jahren ein und aus gegangen. Während sich die ältere Tochter normal entwickelt, wird bei der Kleinen ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom diagnostiziert.
ADHS wird diagnostiziert, Ritalin verschrieben
ADHS resultiert, grob vereinfacht, aus einer Störung im Gehirn, einem Über- oder Unterangebot von Botenstoffen wie Dopamin oder Noradrenalin. Die Folgen sind für die Umgebung nur schwer zu händeln: motorische Unruhe, Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität.
Im Kindergarten gibt es erste Probleme, die Ärzte verschreiben Ritalin, bis heute Mittel der Wahl bei ADHS, und zwar schon sehr früh. Aber: „Es wäre ohne nicht gegangen, keine Chance.“ Später, viel später wird man ihr vorwerfen, sie habe ihre Tochter mit süchtig gemacht, an Medikamente gewöhnt, erinnert sich Schöffler-Uylen.
In der Schule reichen auch Ritalin & Co. nicht mehr aus. Das Stillsitzen und Zuhören überfordert die Tochter. Dutzende Male rufen die Lehrer an, schicken das Kind heim, zitieren die Mutter zur Schule. Das Mädchen hat dabei keine einzige Freundin: „Wer will schon einen Zappelphilipp zu Besuch haben, der gar nicht spielen kann...“.
Wutausbrüche, Apathie, Brüllerei
Die Mutter kämpft, mittlerweile alleinerziehend. Die Ehe übersteht die Probleme nicht. Sie soll die Tochter auf eine Förderschule für Erziehungsschwierige geben, aber sie weigert sich, denn das Kind ist nachgewiesen überdurchschnittlich intelligent, die Mutter fürchtet, dass eine Förderschule ihr nicht gerecht wird. Aber: „Heute kann ich auch Eltern und Lehrer verstehen, die wollten ja nur, dass ihre Kinder ohne Störung lernen.“
Die Probleme gehen in den weiterführenden Schulen weiter, auch ein Aufenthalt in der Kinderpsychiatrie hilft nicht. Schließlich verwandelt sich die Auffälligkeit in Renitenz, die gerade mal Zwölfjährige kommt viel zu spät – oder gar nicht mehr – nach Hause, ist kaum ansprechbar, schon gar nicht erziehbar, hat Wutausbrüche, tritt gegen Möbel, schließt sich ein, brüllt, ist apathisch.
Nächtelang macht sich Kerstin Schöffler-Uylen auf die Suche. Die Polizei gibt ihr den entscheidenden Tipp, dass sich die Tochter in der örtlichen Drogenszene aufhält. „Es war eigentlich ziemlich einfach. Dort hat man sie so akzeptiert, wie sie ist.“
Schule? Fehlanzeige. Hätte die Mutter die amtlichen Geldbußen für Schulschwänzerei des Teenagers tatsächlich zahlen müssen, wäre sie schnell pleite gewesen. Kerstin Schöffler-Uylen schläft auf der Couch, weil es sich nicht lohnt, ins Bett zu gehen, bis die Polizei wieder anruft.
Klinkenputzen beim Jugendamt
Die Tochter wird zur Streunerin, magert ab, verwahrlost, hängt rum im Stadtpark, in Bahnhöfen: „Die finden sich untereinander, wissen immer, wer etwas zu verkaufen hat!“ Geschnupft, geschluckt, geraucht und getrunken wird, was man kriegen kann.
Dazwischen hilflose Versuche, die inzwischen 15-, 16-Jährige aus der Szene zu lösen, Klinkenputzen beim Jugendamt, bei Ärzten, um die Tochter zu therapieren, es folgen Aufenthalte in der Entzugsklinik, eine therapeutische Reise nach Polen, letztendlich scheitert nahezu alles.
Zurück aus Polen nimmt die Mutter die Tochter wieder auf, schließt mit ihr einen „Vertrag“: Schule muss sein, man findet auch eine, doch an dem Tag, als sie sich dort vorstellen soll, kommt sie die Treppe herunter – „mit High Heels und einem tiefen Ausschnitt, da habe ich gesagt, so gehe ich nicht mit dir...“. „Dann eben nicht“, sagt die Tochter und macht sich auf, denn im Dorf ist Kirmes, Partytime, die Mutter hinterher und da wird sie bedroht, nicht das erste Mal, aber diesmal mit einem Messer.
Nachts in Notschlafplätzen aufgehalten
Was sie da empfunden hat? „Trauer und Wut“, sagt Kerstin Schöffler-Uylen. Eine Wut, die in diesem Moment die Liebe zum Kind überlagert. Sie wirft die Tochter raus, die sich irgendwie durchschlägt, in Notschlafplätzen, bei Bekannten. Sie stiehlt, dann gibt es einen Raub, ein Jugendarrest folgt.
Doch dann, nach Jahren, folgt der Ausstieg aus der Drogenszene, den die Tochter selbstständig organisiert. „Und zwar, weil sie das so wollte“, sagt die Mutter. Sie selbst hat abgeschlossen damit, die Schuld an der Entwicklung zu suchen, weder bei sich, noch bei anderen. Es ist, wie es ist.
Und sie rät vor allem Helikopter-Eltern, ihre Kinder nicht vor allen Risiken bewahren zu wollen, sondern ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen: „Ich mag das Dornröschen-Beispiel. Im ganzen Land werden die Spindeln abgeschafft, damit sich Dornröschen nicht sticht. Und was passiert? Sie findet genau die eine, die es noch gibt, auf dem Dachboden!“
>>>>>>> Hier finden Betroffene Hilfe
Elternkreise gibt es in ganz NRW, so in Duisburg, Moers, Oberhausen und neuerdings auch in Düsseldorf. Jede Kontaktaufnahme und alle Gespräche werden selbstverständlich vertraulich behandelt.
Kontaktdaten gibt es bei der Landesarbeitsgemeinschaft Arwed, 0234-9837932,
Mail: info@arwed-nrw.de,
Internet: www.arwed-nrw.de