An Rhein und Ruhr. . Eine enorme Klagewelle rund um eine Gesetzesänderung für die Erstattung von Klinikkosten belastet die Gerichte. Nun werden Richter eingestellt.
Mehr als 10.000 neue Verfahren binnen weniger Tage: Nach einer Klagewelle rund um die Erstattung von Klinikkosten funken die Sozialgerichte in Nordrhein-Westfalen SOS. „Die Situation ist dramatisch“, sagt Martin Löns, der stellvertretende Direktor des Landessozialgerichtes (LSG). Für ihn steht fest: Die Klagewelle belastet den ganzen Betrieb. Die Dauer auch anderer Verfahren werde sich verlängern.
War eine Operation wirklich nötig, musste eine Therapie solange dauern, hätte es ein günstigeres Medikament auch getan? Die vielen neuen Erstattungs-Verfahren waren im November in der Justiz angelandet, weil eine Gesetzesvorschrift die Verjährungsfrist drastisch verkürzt hatte und es eine Übergangsregelung von wenigen Tagen gab. Mit Autos seien die Vertreter von Krankenkassen bei den Gerichten vorgefahren, um die vielen dicken Akten abzugeben, berichtet Löns.
„Diese Klagen sind Wundertüten“
Der Haken: Mitunter hängen an einem einzelnen Verfahren hunderte Einzelfälle, die auch geprüft werden müssen. „Diese Klagen sind für uns Wundertüten“, sagte der LSG-Vize an diesem Dienstag vor Journalisten. Experten halten es für möglich, dass mit den neuen Klagen insgesamt 30.000 bis 50.000 neue Verfahren verbunden sind. Eine einzelne Kasse beispielsweise hat eine Klage auf 6,7 Millionen Euro eingereicht, bei der es um insgesamt 400 Fälle geht.
Die Klagewelle hat die Bilanz der NRW-Sozialgerichte für 2018 gesprengt. Insgesamt 96.815 neue Verfahren kamen im vergangenen Jahr bei den acht Gerichten der ersten Instanz an - 13,34% mehr als in 2017. Hartz-IV-Streitfälle machen mit knapp 31% einmal mehr den größten Teil dieser Verfahren aus, aber auf dem zweiten Platz (26% der Fälle) folgen Konflikte rund um die Krankenversicherung - wozu eben auch die Erstattungsklagen zählen.
Wirklich ein Fall fürs Gericht?
Quer durch alle Rechtsbereiche: 12,7 Monate dauerte ein Verfahren an einem Sozialgericht im Schnitt (Eilverfahren: 1,3 Monate). Angesichts der Belastung der Gerichte durch die Klagewelle dürften diese Werte im neuen Jahr wohl steigen. LSG-Vize Löns verhandelt mit dem Justizministerium über Verstärkung. Er rechnet mit der Einstellung von 10 bis 20 neuen Richtern in der ersten Jahreshälfte und setzt darauf, dass ab Sommer weitere Richter aus anderen Zweigen der Justiz an die Sozialgerichte abgeordnet werden. Lösen dürfte das die Probleme aber noch nicht.
Arbeit gibt es bei den Sozialgerichten auch abseits der Klagen auf Klinikkosten-Erstattung genug. Zum Jahresende 2018 lagen in der ersten Instanz mehr als 101.600 Fälle an (knapp 85.000 Verfahren waren abgeschlossen worden). LSG-Vize Löns regt an, Klagen auf Klinikkosten-Erstattung künftig auch bis zu einem bestimmten Streitwert bei Schiedsverfahren zu klären.
>>> SOZIALVERBAND ZIEHT EBENFALLS BILANZ.
Der Sozialverband VdK Nordrhein-Westfalen zog ebenfalls Bilanz seiner Rechtsberatung. VdK-Juristen hätten Mitgliedern 2018 in mehr als 6200 Fällen gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern beigestanden, berichtete der Verband. „Bei aller Freude über die erfolgreiche Arbeit für unsere Mitglieder macht diese Entwicklung zugleich deutlich, dass sich inzwischen nur noch wenige Menschen im Dickicht des sozialrechtlichen Dschungels zurechtfinden“, meinte der Landesvorsitzende Horst Vöge. Es dürfe nicht sein, „dass Behörden Menschen in Notsituationen einfach im Regen stehen lassen“. Voraussetzungen für mögliche Ansprüche müssten von Anfang an gewissenhaft geprüft, Antragsverfahren vereinfacht und neutrale Beratungsstrukturen ausgebaut werden.