Ulrike Ries verkauft auch bei diesem Wetter Kartoffeln und Eier auf dem Markt. Sie ist gerüstet. Und hat ihre ganz eigene Sicht auf die Welt.
Was für eine Schweinekälte. Ich habe die Handschuhe im Auto vergessen (im Handschuhfach tatsächlich) und dem Kugelschreiber in meinen Ötzi-Fingern geht nach zwei Kritzeleien der Saft aus. Ulrike Ries schaut aufs Thermometer: „Kein Wunder. Minus zwei Grad. Hier.“ Sie reicht mir einen rosa Kuli, steckt sich eine Zigarette an, legt sie gleich wieder zur Seite, weil ein Mann an den Stand gekommen ist: „Zwölfmal Bodenhaltung.“ Sie gibt ihm die Eier, kassiert die Knete und raunt mir zu: „Niemals vor der Kundschaft rauchen...“
Sieben Schichten, beginnend mit Skiunterwäsche
Ich bin Ulrike extrem dankbar, dass sie sich Zeit nimmt für meine Fragen an diesem tiefgekühlten Tag. Es sind weniger Kunden als sonst, aber alle paar Minuten steht doch einer vor dem Zelt auf dem Markt in Essen-Stoppenberg, der heute nur ein Märktchen ist. Drei Stände. Wurst und Käse einer, Obst und Gemüse der nächste und eben unserer: Eier und Kartoffeln. Können die eigentlich die Kälte ab, frag ich Ulrike. „Eier sind hart im Nehmen, Kartoffeln machen erst so ab minus fünf schlapp.“ Und sie selbst? „Zwiebelsystem. Ich hab sieben Schichten an, beginnend mit Ski-Unterwäsche, Handschuhe. Zwei Paar Socken, Fell-Sohle. Wenn eine Marktfrau sich nach der Arbeit umzieht, liegt ein Riesenberg Klamotten vor ihr. Und die Marktfrau ist ganz dünn.“ Sie lächelt und raucht noch eine. „Ich hab Pappkartons auf den Boden gelegt gegen die Kälte, die von unten kommt. Dazu der Gas-Strahler. Da muss ich aufpassen, dass die Jacke nicht ankokelt.“
Die Kunden sind überwiegend ältere Leute. Da wird mit Pfund bestellt und mit Groschen gerechnet. Ulrike stört das überhaupt nicht. „Ich mag alte Menschen. Ich mag Gespräche. Ich mag den Markt.“ Zehn Euro die Stunde bekommt sie und ist zufrieden. Weil es ihr schon mal deutlich dreckiger ging. „Privatinsolvenz, vor neun Jahren. Das war hart. Ich bin erst seit kurzem wieder ein freier Mensch.“
Leben mit 40 Euro in der Woche
Eine Trinkhalle mit Getränkemarkt hatte sie. Dann verlängerten die Supermärkte die Öffnungszeiten und die Tankstellen wurden zu Supermärkten. „Blieben ja nur Zeitungen und Zigaretten. An einer Schachtel verdienst du aber nur so drei Cent. Zu wenig. Ich war aber auch selbst schuld. Ich hab viel zu spät aufgegeben, immer wieder versucht, den Laden zu retten. Bis ich komplett am Boden war.“ Alles aus.
Hartz 4. „Ich hab mir das Geld, das zum Leben blieb, für jede Woche in einen Briefumschlag gepackt.“ Wieviel war da drin? „Na ja, so etwa 40 Euro. Ich konnte aber immer ganz gut mit wenig auskommen. Schmuck oder so brauch ich nicht. Meine Eltern haben mich auch zur Sparsamkeit erzogen. Und zum Glück war der Junge schon in der Lehre.“ Ihr Sohn Timo, inzwischen 28. „Mein heutiger Chef hat mir dann diese Chance gegeben, sonst kriegst du keine Arbeit mit meiner Geschichte. Der kannte mich aber. Der wusste, die kommt immer, auch mit dem Kopf unterm Arm.“
Elias heißt der Enkel, anderthalb Jahre alt
Kurz vor eins. „Linda“ sind weg, „Annabelle“ fast. Ulrike packt ein. Gewöhnt man sich an die Kälte? „Ne. Niemals. Ich bin im Juli geboren. Ich liebe den Sommer.“ Und warum ist sie dann so gut drauf? Zigarette, Lächeln. „Ich habe seit einiger Zeit einen neuen Freund. Und Timo hat einen Sohn. Elias. Mein Enkel. Anderthalb. Ich bin glücklich.“ Da schmilzt auch das dickste Eis..