Dinslaken. Fünf Senioren aus Dinslaken, alle jenseits der 90 Jahre, erinnern sich an das Christfest ihrer Kindheit und erzählen von Weihnachten im Jahr 2018.

Weihnachten hat für viele von uns eine Melodie. Das kann die berührende Andächtigkeit von „Es ist ein Ros entsprungen“ sein. Oder die Feierlichkeit von „Vom Himmel hoch, da komm ich her“.

Für Hildburg Piechula aber hat Weihnachten einen Klang: Den des Engelsgeläuts auf dem Tannenbaum, damals, in ihrer Kindheit in der Lüneburger Heide. Weit über 80 Jahre ist es her, dass sie diesen Klang zum ersten Mal hörte, aber Frau Piechula kennt noch jedes Detail der filigranen Konstruktion: die Kerzen, die das kleine Windrädchen in Bewegung brachten. Die feinen Engelchen, die so schwerelos im Kreis flogen. Die Glöckchen, die sie zum Klingen brachten. Und eben den Klang des zarten Geläuts, fein und leise und so schön, um ihn sich für immer einzuprägen. „Weihnachten bedeutet Ankunft. Erwartung. Und in meiner Kindheit stand Weihnachten für ganz große Geborgenheit,“ sagt Hildburg Piechula, mittlerweile 92 Jahre alt. Am Nachmittag des Heiligabends schmückte die Mutter den Baum. „Und mein Vater ist mit mir in die Kirche gegangen.“ Übrigens war damals noch die Zeit, als das Christkind die Geschenke brachte - und nicht der Weihnachtsmann. „Und Kirche war natürlich ganz wichtig. Der Glaube hat eine große Rolle gespielt.“

Wir sitzen zusammen im Alfred-Delp-Haus, einer Senioreneinrichtung der Caritas in Dinslaken. Die Tafel ist adventlich gedeckt. Es gibt Spekulatius, Vanillekipferl und Spritzgebäck. Nebenan wird in großer Runde Bingo gespielt. Draußen strömen die Menschen im Nieselregen zu den Supermärkten vis-à-vis. Doch hier drinnen ist es ein bisschen feierlich. Denn wir wollen über Weihnachten sprechen, früher und jetzt. Hinter uns steht ein festlich geschmückter Baum. „Wunderbar gewachsen. Echte Nordmanntanne“, freut sich die kleine Gruppe. „Wo kriegen die immer so schöne Bäume her?“

„In meiner Kindheit stand Weihnachten für ganz große Geborgenheit“, erzählt Hildburg Piechula.
„In meiner Kindheit stand Weihnachten für ganz große Geborgenheit“, erzählt Hildburg Piechula. © Morris Willner

Sieglinde und Richard Wendenburg, Hildegard Hauptmann, Anneliese Richter und Hildburg Piechula - alle fünf am Tisch haben die 90 überschritten, doch ihre Erinnerungen sind akribisch genau. „Feierlich war’s immer, aber auch sehr, sehr arm“, sagt Hildegard Hauptmann (94). Es waren die Weltwirtschaftskrisenjahre: „Aber die Eltern haben sich größte Mühe gegeben, dieses Fest zu etwas ganz Besonderem zu machen.“ Schnee gehörte übrigens immer dazu. Jedenfalls in der Erinnerung. „Früher hatten wir jedes Jahr von Oktober bis April Schnee. Meine Güte, was mussten wir da schippen. Auch an Weihnachten.“ Alle nicken zustimmend.

Wir nehmen noch eine Tasse Kaffee, koffeinfrei für die eine Hälfte des Tisches. „Wegen des Herzens,“ raunt Sieglinde Wendenburg (93) und erzählt ganz nebenher, dass sie und ihr Mann Richard in diesem Monat seit 68 Jahren verheiratet sind und dass sie im nächsten Jahr 80-jähriges Konfirmationsjubiläum feiern wird. „Da werden zum Jubiläum nicht mehr viele kommen“, mutmaßt Frau Hauptmann, die das Datum schon hinter sich hat. „Ich bin aus meiner Gruppe die einzige, die noch da ist.“ Die Runde schweigt. Nachdenklich.

Ach, wir wollten doch über Weihnachten sprechen. Ach, ja.

Beim Baumplündern gab es manchmal Krach

Zu acht seien sie zu Hause gewesen, erzählt Sieglinde Wendenburg. „Da gab es natürlich auch schon mal Krach, vor allem beim Baumplündern.“ Baumplündern? Kennt man ja heute kaum noch. „Im Baum hingen doch damals die Süßigkeiten für die Kinder,“ sagen Sieglinde Wendenburg und Hildegard Hauptmann fast gleichzeitig.

Doch zu Frau Wendenburgs Gedächtnis gehört genauso, dass wenige Jahre nach diesen turbulenten, schönen Festen zwei ihrer Brüder in Russland gefallen sind. Entsetzliche Erinnerungen. Frau Richter erzählt vom Trauma des Fliegeralarms. Frau Piechula von ihrer Flucht von Polen nach Berlin im offenen Güterwaggon bei 45 Grad minus und den Erfrierungen, die sie davon getragen hat. „Meine Kinder haben oft gefragt: ,Mutti erzähl doch mal von früher.’ Und ich hab immer gesagt: ,Nee, das möchte ich nicht.’“ Und jetzt sind wir doch mittendrin im Grauen des Zweiten Weltkriegs.

Unsere Gesprächsgruppe aus dem Alfred-Delp-Haus zusammen mit Altentherapeutin Elisabeth Kaminsiki (2.v.l.).
Unsere Gesprächsgruppe aus dem Alfred-Delp-Haus zusammen mit Altentherapeutin Elisabeth Kaminsiki (2.v.l.). © Morris Willner

Kann man da mal eben wieder so zur Tagesordnung übergehen? Nee, kann man natürlich nicht. Und doch kommen wir nach einer Weile wieder zurück in die Gegenwart des Advents 2018. Und zum Kartoffelsalat. Mit Würstchen. DAS Heiligabendessen. Für alle in der Runde. Gab’s früher bei ihnen allen. Und gibt’s heute Nachmittag auch im Alfred-Delp-Haus. „Das ist Tradition. Gehört doch einfach dazu“, sagt Altentherapeutin Elisabeth Kaminski, die die heutige Heiligabendfeier begleitet und mitorganisiert. Das hat auch für sie Tradition.

Für alle Bewohner gibt es im Alfred-Delp-Haus Geschenke

Überhaupt wird hier viel gefeiert in der Adventszeit. „Wir lassen hier kein Fest aus“, schmunzelt Richard Wendenburg, mit 97 der älteste in der Runde. Gestern haben sie noch zum vierten Advent gemütlich zusammengesessen.

Richard Wendenburg ist mit seinen 97 Jahren der älteste in der Runde.
Richard Wendenburg ist mit seinen 97 Jahren der älteste in der Runde. © Morris Willner

Nach der katholischen Messe wird’s heute Abend auch noch Bescherung geben mit Geschenken für alle 80 Bewohner. Gehört dazu.

Nur das von Hildegard Hauptmann hat im vergangenen Jahr gefehlt. Für sie war kein Geschenk mehr da. Und da wird man automatisch wieder Kind: „Ich habe mich gefragt, ob ich was falsch gemacht oder mich schlecht benommen habe und deswegen nichts bekomme.“ „Hatte sie nicht. Es war nur eine Panne. Das Präsent wurde nachgeliefert.

Anneliese Richter wird heute Abend fehlen. Sie ist bei ihrem Enkel eingeladen, der wohnt ebenerdig, da kommt sie mit Rollator und notfalls auch mit Rollstuhl rein ins Haus. Das sind entscheidende Faktoren, wenn man nicht mehr gut auf den Beinen ist. Gibt’s da auch Kartoffelsalat? „Das weiß ich gar nicht. Aber wahrscheinlich nicht. Die jungen Leute heute sind ja so neumodisch.“ Wird aber ganz bestimmt auch lecker sein.

Caritas-Mitarbeiterin Elisabeth Kaminski wird mit den Bewohnern den Heiligabend begehen, später zu Hause mit Mann und Söhnen feiern, nach polnischer Tradition mit zwölf Gerichten. Und dann werden sie zwei Lieder singen: „Stille Nacht“ - auf polnisch und auf deutsch. „Gänsehaut. Jedes Jahr“, sagt Elisabeth Kaminski.

Für Hildburg Piechula wird’s morgen noch mal Geschenke geben. Sie hat am ersten Weihnachtstag Geburtstag. 93 wird sie.

Und bestimmt hört man auch an den Weihnachtstagen des Jahres 2018 irgendwo den feinen Klang eines Engelsgeläuts.