An Rhein und Ruhr. . Das Klima in den Gefängnissen ist deutlich rauer geworden. Gewerkschaft: Die Beamten sind zu „Fußabtretern von Kriminellen“ geworden.
Die Beamten in den Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen klagen darüber, dass sie immer mehr verbalen und körperlichen Attacken ausgesetzt sind. Nach Angaben des Bundes der Strafvollzugsbediensteten (BDSB) und der Jugendorganisation des Deutschen Beamtenbundes NRW (DBB) sei das Klima in den Gefängnissen in den vergangenen Jahren deutlich rauer geworden, die Übergriffe von Seiten der Inhaftierten hätten zugenommen. Die Beamten seien zu „Fußabtretern von Kriminellen“ geworden.
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Eigentlich sollen die beiden Beamten den Gefangenen nur zum Landgericht nach Dortmund bringen. Routine. Doch der Mann, ein islamistischer Gefährder, wehrt sich in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt in Iserlohn gegen die Gerichts-Vorführung, er ist aggressiv, wird handgreiflich. Plötzlich überschüttet er die Beamten mit siedend heißem Wasser. Sie werden mit Hubschraubern in eine Spezialklinik gebracht, haben aber noch Glück: Das Wasser erwischt sie nicht im ungeschützten Gesicht, sondern „nur“ am Oberkörper und an den Beinen. Trotzdem erleiden sie Verbrennungen zweiten Grades.
Gefangene werfen mit Kot
Diesen Vorfall schildert der Bund der Strafvollzugsbediensteten (BSBD) auf seiner Internetseite. Es mag eine besonders krasse Attacke in Iserlohn gewesen sein, überraschend war sie für Experten nicht. Die Stimmung in den Knästen werde rauer, das Konfliktpotenzial sei in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Gewerkschaft BSBD schlägt Alarm, genauso die Jugendorganisation des Deutschen Beamtenbundes (DBB) NRW, die schon länger mit einer Internetkampagne auf die steigenden Übergriffe im öffentlichen Dienst aufmerksam machen will.
Linus Müller kennt die Übergriffe aus seinem Alltag. Der Beamte arbeitet in einer JVA in Nordrhein-Westfalen, seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Er sagt: „Vor allem verbale, aber auch körperliche Übergriffe gehören bei uns mittlerweile zum Alltag.“ Müller berichtet von Beleidigungen, von Bedrohungen, von Nötigungen und Erpressungen, manche Gefangene werfen mit ihrem Kot nach den Beamten oder versuchen sie, mit Urin zu übergießen. Immer mehr Inhaftierte seien unberechenbar. „Es gibt Leute, da weiß man nicht, was passiert, wenn man die Tür zur Zelle aufmacht.“
Müller, der selbst auch schon Angriffe erlebt hat, vermisst in vielen Fällen den Rückhalt der Vorgesetzten. „Oft kommt der Satz: Das gehört zum Job dazu“, sagt er. Natürlich ist ein Knast kein Ort, an dem es nett und freundlich zu geht, das sieht auch der Beamte so – er sagt aber: „Nur weil ich diesen Beruf habe, muss ich mich nicht beleidigen und beschimpfen lassen.“
Peter Brock bestätigt diesen Eindruck. „Es ist unbestritten, dass die Übergriffe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen haben“, sagt der Landesvorsitzende des BSBD. Das habe mit der allgemeinen Verrohung der Gesellschaft zu tun, die sich im Gefängnis wohl im extremeren Maße widerspiegle. „Was draußen mit den Rettungskräften und den Polizisten passiert, gibt es in den Anstalten auch“, sagt Brock. Zudem hätten es die Gefängnisse immer öfter mit Straftätern zu tun, die als Gefährder eingestuft werden – so wie in Iserlohn.
Die offiziellen Angaben widersprechen allerdings den Schilderungen der Gewerkschaften. So verzeichnete das NRW-Justizministerium in seinen 36 Anstalten im vergangenen Jahr insgesamt sieben gewalttätige Übergriffe mit „erheblichen Verletzungsfolgen“ für die Bediensteten. Die Zahl ist seit Jahren konstant. Zugenommen haben hingegen die als Tätlichkeit gewerteten und weniger gravierenden Vorfälle: 2017 waren es 72 Meldungen, 2013 erst 46.
Dass die offiziellen Zahlen angesichts von rund 16 500 Inhaftieren so niedrig liegen, überrascht die Gewerkschaften nicht. „Sie sind unserer Ansicht nach nicht stimmig“, sagt Peter Brock. Viele Vorfälle würden gar nicht erst gemeldet, meint auch die DBB-Jugend.
Da widerspricht das Ministerium zwar, Sprecher Peter Marchlewski bestätigte aber nach einer Anfrage dieser Redaktion, dass verbale Gewalt überhaupt nicht registriert wird. Dabei betonen die Gewerkschaften, dass gerade Beleidigungen, Bedrohungen oder Nötigungen die Beamten in den Anstalten stark belasten würden. „Die psychischen Langzeitfolgen werden vom Justizministerium gar nicht erfasst“, sagt Moritz Pelzer, der Vorsitzende der DBB-Jugend in NRW.
Viele Probleme ließen sich mit einer besseren Personalausstattung lösen, glaubt Peter Brock. In diesem Punkt setzt er große Hoffnungen in Justizminister Peter Biesenbach (CDU), der bis 2022 knapp 1000 neue Stellen im Vollzug angekündigt hat. „Das ist ein gutes Signal und dringend nötig.“ Vom Waffeneinsatz in den Anstalten hält Brock hingegen weniger, das wäre zu gefährlich und kontraproduktiv, würde im schlimmsten Fall zu Eskalationen führen.
Der verpflichtende Sport finden kaum statt
Für sinnvoller hält der erfahrene Beamte eine bessere Grundausbildung für Konfliktsituationen. Doch durch den Personalmangel komme die seit Jahren viel zu kurz. Eigentlich ist für Beamte in den Anstalten ein Sportprogramm im kleinen Umfang sogar verpflichtend.
Aber selbst die wenigen im Jahr vorgeschriebenen Stunden würde kaum jemand absolvieren, sagt Brock. Dafür fehle es bei der derzeitigen Besetzung an Personal: „Viele Kollegen holen das privat nach, machen in der Freizeit Karate oder Judo.“ Auch Linus Müller trainiert kaum im Job für den Job: „Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal innerhalb einer Anstalt Selbstverteidigung gemacht habe.“
>>>DBB startet Aufklärungskampagne im Netz
Die Jugendorganisation des DBB ist innerhalb des Beamtenbundes selbstständig organisiert. Sie macht seit Jahren auf die aus ihrer Sicht steigenden Übergriffe im öffentlichen Dienst aufmerksam. Vor einiger Zeit starteten die jungen Gewerkschafter einer Aufklärungskampagne im Internet. Sie schildern Fälle aus dem Alltag der Beschäftigten auf der Internetseite www.angegriffen.info .