Kleve. . Ein Berufsverband schlägt Alarm: Vor allem auf dem Land gibt es zu wenige Ärzte für Kinder und Jugendliche, auch Eltern klagen darüber.
Die neugeborenen Zwillinge sind gerade versorgt, da wartet im Behandlungszimmer gegenüber schon der zwölfjährige Julian. Wolfgang Brüninghaus, der Doktor, eilt von Zimmer zu Zimmer. Im Warteraum schreit ein Kleinkind. Das Telefon auf dem Schreibtisch von Arzthelferin Monika Johnsen klingt alle paar Minuten.
„Heute geht es noch einigermaßen“, sagt Petra Hoffs, die andere Arzthelferin von Kinderarzt Dr. Brüninghaus. „An manchen Tagen endet die Mittagssprechstunde erst um halb zwei und die Nachmittagssprechstunde um halb acht.“ Notfall für Notfall koordiniert Petra Hoffs dann mit ihrer Kollegin, das ist Stress pur – selbst für die erfahrene Arzthelferin, die schon seit 25 Jahren in der Praxis in der Klever Innenstadt arbeitet.
Weil an diesem Dezembernachmittag eben etwas weniger los ist als sonst, hat der Doktor zwischen den Patienten immer wieder ein paar Minuten Zeit für ein Gespräch. „Wir arbeiten absolut auf Kante“, sagt Wolfgang Brüninghaus. Seit im Sommer 2016 eine Praxis zugemacht hat, weil sie keinen Nachfolger fand, gibt es in der Stadt mit immerhin 50 000 Einwohnern nur noch zwei Kinderärzte. „Sobald ein Arzt ausfällt, haben wir sofort eine Mangelsituation.“
Lange Wartezeiten
Das bekommen die Eltern zu spüren. „Es gibt verzweifelte Eltern, die nach Kleve gezogen sind und keinen Kinderarzt finden“, sagt Anne Dekkers, die zusammen mit anderen Müttern eine Elterninitiative gegründet hat, die für mehr Kinderärzte im Kreis Kleve kämpft. Laut der Initiative haben im Kreis Kleve 70 Prozent der Kinder- und Jugendärzte einen Aufnahmestopp verhängt – auch die Praxis von Dr. Brüninghaus nimmt derzeit nur Neugeborene und Geschwisterkinder auf. Bei Vorsorgeterminen gibt es lange Wartezeiten.
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte beobachtet Entwicklungen wie im Kreis Kleve schon länger und schlägt deshalb Alarm. „Der Kinderärztemangel wird sich in Zukunft noch verschärfen“, sagt Edwin Ackermann vom Bezirk Nordrhein. „In den nächsten fünf Jahren gehen 25 Prozent der Kinderärzte in den Ruhestand.“ Schon jetzt seien besonders auf dem Land und in den sozialen Brennpunkten der Großstädte die meisten Praxen überlastet.
Die Klagen der Ärzte passen allerdings nicht zur offiziellen Statistik. Ganz im Gegenteil: Demnach gilt ganz Nordrhein-Westfalen sogar als überversorgt. In Duisburg wird die Quote der niedergelassenen Kinderärzte mit 128,1 Prozent erfüllt, in Essen sind es 156,5 Prozent und auch im Kreis Wesel (131,3 Prozent) oder im Kreis Kleve (124,9 Prozent) gibt es mehr als genug Ärzte für die Patienten.
Woran liegt das? Grundlage für die Ärzteversorgung ist die gesetzliche Bedarfsplanung. Die wird vom sogenannten „Gemeinsamen Bundesausschuss“ (GBA) für ganz Deutschland festgelegt – die einzelnen Bundesländer haben nur in begrenzten Räumen Einfluss darauf. Dieser Ausschuss entscheidet, wie viele Ärzte sich in einem Kreis oder einer Stadt niederlassen dürfen. Das Problem: Die aktuelle Planung stammt aus dem Jahr 1993.
Mehr Aufgaben für Ärzte
„Die Zahlen sind völlig veraltet und in einem anderen Gesellschaftsbild stehen geblieben“, sagt deswegen Edwin Ackermann vom Berufsverband. Kinderärzte hätten auf der einen Seite heute mehr Aufgaben: So sei etwa die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen gestiegen, die Eltern hätten deutlich mehr Beratungsbedarf und würden ihre Kinder zudem öfter zum Arzt bringen.
Außerdem werden in NRW mittlerweile wieder mehr Kinder geboren, zudem gehören natürlich auch die Flüchtlingskinder zu den Patienten. Auf der anderen Seite achten junge Ärzte heute verstärkt auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. „Eine 60- bis 70-Stundenwoche will niemand mehr“, sagt Edwin Ackermann. Der Verband fordert deshalb, dass die Bedarfsplanung deutlich angepasst wird. Der GBA erwartet eine neue Planung für 2019.
Ob eine verbesserte Bedarfsplanung durch den GBA den Ärztemangel auf dem Land stoppen kann, ist allerdings nicht klar. Viele Ärzte wollen schlichtweg nicht aufs Land, weil die Arbeitsbedingungen dort deutlich schwieriger sind als in der Stadt.
Großes Ungleichgewicht
Für Ärzte und Patienten auf dem Land gibt es noch ein weiteres Problem – es hat ebenfalls mit der Bedarfsplanung zu tun. Denn die legt fest, dass die Kinderärztedichte in Großstädten höher ist als im ländlichen Raum. So kommen auf einen Kinderarzt in Düsseldorf 2405 junge Patienten, während es im Kreis Kleve 3859 sind. „Das ist eine Diskriminierung der Menschen auf dem Land“, sagt Wolfgang Brüninghaus.
Dieses Ungleichgewicht liegt daran, dass der GBA die Kinderärzten zu den Fach- statt zu den Hausärzten zählt – und Fachärzte behandeln laut Planung auch Patienten aus dem Umland. „Für die kinderärztliche Versorgung halten wir diese Annahme für fragwürdig“, sagt Stephan Schneider von der Kassenärztlichen Versorgung Nordrhein.
Wolfgang Brüninghaus kann derzeit etwas aufatmen. Im Kreis Kleve darf sich per Sonderregelung ein weiterer Kinderarzt ansiedeln. Nach langer Suche fängt bei ihm in der Praxis im Januar eine junge Ärztin an. „Das entspannt die Situation etwas und löst hoffentlich das Problem der Nachfolge“, sagt Brüninghaus. 63 ist er, in zwei Jahren will er in den Ruhestand gehen.