Berlin. Acht Jahre lang suchte Jenny Hilfe. Immer wieder wurde sie weggeschickt. Ein Arzt nahm sie endlich ernst – und rechnet mit seiner Zunft ab.

  • Jenny war verweifelt: Sie bekam kaum noch Luft, doch die Ärzte nahmen sie nicht ernst
  • Sie ist kein Einzelfall, sagt Kardiologe Michael Becker vom ersten Frauenherzzentrum Deutschland
  • Tausende Frauen sind betroffen, denen leicht geholfen werden kann

Jenny ist 37 Jahre alt. Ein Alter, in dem die meisten Menschen noch nicht mit einem kranken Herzen rechnen müssen. Auch deshalb, so erzählt sie, hat man sie lange nicht ernst genommen. Dass etwas mit ihrem Herz nicht stimmte, hatte sie anfangs daran gemerkt, dass es immer öfter „ins Stolpern“ geraten sei. Hinzu kamen „Herzrasen, mit Schwindel und Brustenge“.

Bis sie Hilfe erhielt, hat sie eine wahre Odyssee hinter sich bringen müssen, erzählt sie als eine von vielen Betroffenen im Buch „Herzenssache – warum Frauenherzen anders schlagen“ (Hoffmann und Kampe, 271 S., 18 Euro). Autor ist Prof. Michael Becker, der 2018 am Rhein-Maas Klinikum in Würselen (NRW) das erste Frauenherzzentrum deutschlandweit gegründet hat. Jenny ist eine seiner Patientinnen. Sie wirkt extrem verzweifelt: „Bis es zur Diagnose kam, sind acht lange Jahre vergangen.“

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Herzleiden? Jenny glaubte schon selbst, sich die Krankheit einzubilden

Jennys Ängste sind geradezu greifbar. Von Arzt zu Arzt sei sie gelaufen, immer in der Hoffnung, Hilfe zu bekommen. Doch „es blieb alles beim Alten, trotz all der Arzt- und Facharztbesuche war ich ohne Diagnose. Es ging mir jedoch immer schlechter. Vor allem nachts und vormittags plagten mich Schwindel, Unruhe, Kieferschmerzen, Luftknappheit und Engegefühl in der Brust.“

Auch familiär fühlte sich Jenny nicht mehr aufgefangen. „Inzwischen hatte auch meine Familie immer weniger Verständnis für meine Gemütszustände und Schwächeanfälle“. Ganz besonders schlimm für sie war, dass sie langsam das glaubte, was man ihr unterstellte: Sie bildet sich alles nur ein.

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„Und auch ich glaubte meinem Körper nicht mehr und hatte das Gefühl, dass es psychisch bedingt sein müsse. Dennoch machte ich mich auf zum dritten Kardiologen, ich suchte mir dieses Mal extra einen Psycho-Kardiologen aus. Dort allerdings wurde ich mit den Worten empfangen: ‚Sie sind 34 Jahre alt, was machen Sie da bei mir?‘“

Ärzte könnten viel mehr Frauen helfen, wenn sie mehr auf ihre Symptome achten, sagt Prof. Michael Becker, Kardiologe und Gründer des Frauenherzzentrums am Rhein-Maas Klinikum in Würselen (NRW) auch in seinem Buch „Herzenssache“.
Ärzte könnten viel mehr Frauen helfen, wenn sie mehr auf ihre Symptome achten, sagt Prof. Michael Becker, Kardiologe und Gründer des Frauenherzzentrums am Rhein-Maas Klinikum in Würselen (NRW) auch in seinem Buch „Herzenssache“. © hoffmann und campe | Hoffmann und Campe

Jennys Geschichte sei typisch für viele Frauen, die mit Herzbeschwerden zum Arzt gehen, so Prof. Becker im Gespräch mit der Redaktion. „Es ist dramatisch und auch ungerecht, was Frauen bei Ärzten viel zu häufig erleben. Sie werden viel zu oft einfach nicht ernst genommen oder als hysterisch dargestellt.“

Herzspezialist: Tausenden Frauen könnte geholfen werden

In vielen Köpfen der Mediziner sei immer noch die Ansicht fest verwurzelt, dass Frauen dank ihres Östrogenschutzes weniger Herzinfarkte erleiden. Das Augenmerk richte sich auf Männer und deren Stressfaktoren. „Dabei stehen Frauen heute ähnlich unter Druck, sogar durch Doppel- und Dreifachbelastung in Beruf, Familie und Haushalt noch mehr.“ Und der Hormonschutz nehme mit zunehmendem Alter, vor allem in den Wechseljahren, ab.

Dass selbst junge Frauen gefährdet sind, zeige Jennys Geschichte deutlich. Durch eine Freundin kam sie ans Frauenherzzentrum, wo ihr erstmals nicht mehr unterstellt wurde, labil oder nicht zurechnungsfähig zu sein. Im Gegenteil: Sie erhielt eine handfeste Diagnose: vaso-spastische Angina Pectoris. „Es war ein Schock, aber auch pure Erleichterung zugleich. Ich war also doch nicht verrückt“, erzählt Jenny. Sie bekam Medikamente, und alles sei ganz schnell besser geworden.

„Tausende Frauen, aber auch Männer, in Deutschland leiden unerkannt unter einer vaso-spastischen Angina“, sagt Becker. Dabei handelt es sich um eine Verkrampfungsneigung der Herzkranzgefäße, die das Herz mit Blut versorgen. In der schlimmsten Ausprägung des Krampfes können die Beschwerden ähnlich stark wie bei einem Herzinfarkt ausfallen. Bei Männern käme diese Art Angina auch vor, aber bei Frauen bliebe sie häufig unerkannt, weil man ihnen viel weniger Beachtung schenke.

Beautiful female doctor talking while explaining medical treatment with digital tablet to patient in the consultation.
Viele Ärzte stellen Patientinnen als Simulatinnen dar. Doch wenn der Leidensdruck so hoch sei, dürfe man keine Frau wegschicken, sagt Prof. Michael Becker. © Getty Images | nensuria

Um diese Erkrankung zu erkennen, reiche die klassische Herzkatheter-Untersuchung nicht aus. Da müsse man bei dieser Untersuchung einen Schritt weiter gehen als üblich und noch einen Spezialtest einsetzen, so der Arzt, der das Vorgehen bei der Herzkatheter-Untersuchung erklärt: „Mit einem feinen Draht gehen wir in die Kranzarterie und messen den Blutfluss bis in die kleinsten Gefäßbereiche hinein.“ Und genau hier säßen die Verursacher des Übels.

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„Das Gute: Es gibt eine Therapie. Und sogar eine sehr einfache“, so Becker. Diese Verkrampfungen der kleinsten Blutgefäße ließen sich bestens mit Medikamenten therapieren. „Das sind ganz normale Blutdruckmedikamente“, die sogar häufig nach einem halben oder dreiviertel Jahr wieder abgesetzt werden könnten.

Kardiologe spricht von „riesiger Gefahr für das Leben von Frauen“

Auch Ursula, eine weitere Patientin, die in Beckers Buch ihre Leidensgeschichte erzählt, berichtet darüber, wie sie Arzt um Arzt aufgesucht habe, um endlich Hilfe zu bekommen. Enge in der Brust, Atemnot. Ihr sei es schlecht gegangen. Ganz schlecht. Aber keiner habe ihr wirklich zugehört. Auch das sei etwas, was Frauen durchgängig berichten würden, sagt Becker. „Die Herzkatheter-Untersuchung bei uns ergab, dass die Patientin an einer starken Verkalkung aller Herzgefäße litt.“ Es habe die Gefahr eines schweren Herzinfarkts bestanden. Um das zu verhindern, erfolgte eine Bypass-Operation. Heute gehe es ihr längst wieder gut.

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Der Klinikleiter ist oft schier verzweifelt, weil man doch im Grunde so vielen Frauen helfen könnte. Wenn die Medizin nur bereit wäre zu akzeptieren, dass Frauen- und Männerherzen anders tickten. Und auch andere Krankheitssymptome zeigten.

Stichwort gendergerechte Medizin. „Ein Frauenherz ist eben nicht einfach nur ein kleines Männerherz“, sagt Becker. Es gebe so viele Unterschiede. So sei beispielsweise die Masse des weiblichen linken Herzens um etwa ein Drittel geringer, die des rechten Herzens aber nur um etwa ein Viertel kleiner als beim Mann. Hinzu kämen massive hormonelle Einflüsse. „Das Ignorieren dieser Unterschiede stellt eine riesige Gefahr für das Leben von Frauen dar.“

Frauenherz-Experte: Mit einfachen Mitteln den Leidensdruck nehmen

Auch Gisela wurde von den Ärzten weggeschickt. Unter Tränen habe sie Becker vom Augenrollen der Doktoren erzählt, die trotz ihrer massiven Beschwerden einfach nichts finden konnten. Am Ende habe sie nur noch resigniert im Bett gelegen, glaubte, nicht mehr richtig im Kopf zu sein. „Giselas Befunde gaben keinen Anlass zur Beunruhigung. Doch unter solch einem Leidensdruck bei einer Patientin darf sich kein Arzt mit einem unauffälligen Befund zufriedengeben“, so Becker.

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Auch ihr konnte mit Medikamenten schnell geholfen werden. „Die Erinnerung an Giselas Leidensweg macht mich heute noch wütend und fassungslos“, so Becker, der hofft, dass die Medizin sich endlich stärker auf die Bedürfnisse von Frauen ausrichtet.