Berlin. Ein Tinnitus kann Betroffene ihr ganzes Leben quälen. Ein Zahnarzt hat eine Methode für Patienten, die schon als austherapiert gelten.
- Zahnarzt beobachtete, dass bei einer speziellen Behandlung die Ohrgeräusche verschwinden
- Patienten aus ganz Deutschland kommen zu ihm
- Die Therapie besteht aus einer Kombination, die auch die Wissenschaft fasziniert
Piepen, Dröhnen oder Sausen – Ohrgeräusche können vielfältig sein. Und vor allem extrem störend. Teilweise ist das Hörvermögen durch den Tinnitus deutlich eingeschränkt. In Deutschland sind laut der Deutschen Tinnitus-Liga rund 2,7 Millionen Menschen von Tinnitus betroffen. Viele müssen sich damit abfinden, dass das Ohrgeräusch trotz Behandlung beim HNO-Arzt nicht aufhört. Zahnarzt Dr. Thomas Schünemann aus Marburg geht einen anderen Weg, um die Ohrgeräusche zu bekämpfen: Er setzt mit der Therapie am Kiefer an.
Herr Dr. Schünemann, ein Zahnarzt, der Tinnitus behandelt, das hat Seltenheitswert. Wie kamen Sie auf die Idee?
Dr. Thomas Schünemann: Vor 25 Jahren fing es mit einer Zufallsbeobachtung an. Mit einem meiner ärztlichen Lehrer habe ich eine Kopfschmerz- und Migräne-Sprechstunde angeboten. An 350 Patienten haben wir beobachtet: Nicht wenige litten neben Kopfschmerzen auch unter Ohrgeräuschen. Und erstaunlich viele haben berichtet, dass mit der Verbesserung des Spannungszustandes in Kiefer, Hals und Kopf auch der Ton im Ohr leiser wurde oder ganz verschwunden ist. Das fand ich so bemerkenswert, dass ich es weiterverfolgt habe.
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Und was haben Sie dabei herausgefunden?
Schünemann: Bei den Betroffenen waren die Kiefergelenke komprimiert, also nach hinten oben verschoben. Die Ursache hierfür ist typischerweise Stress, der sich während des Schlafens als Pressen entlädt. Da wirken Kräfte bis zu 200 kg. Die Folge ist ein verspannter Kiefer am Morgen und meist auch eine schmerzhafte Kopf- und Halsmuskulatur. Das Therapieziel ist, dass der Kiefer wieder Raum hat und frei schwebt.
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Wie kriegt man den Kiefer frei?
Schünemann: Zunächst wende ich den Manuellen Tinnitus-Test an, einen in meiner Sprechstunde entwickelten Griff. Er ist für die Muskulatur entlastend und holt das Gelenk aus der Kompression. Ich protokolliere, ob und wie der Tinnitus reagiert.
Manchmal verschwindet er spontan, sei es nur für die Dauer des Griffs. Natürlich interessiert mich die Erklärung, warum der Ton veränderlich sein kann. Ich bin im Austausch mit Kollegen: Wir stehen hier vor einer Black Box. Das heißt, wir sehen Wirkungen, können den Zusammenhang aber noch nicht vollständig erklären. Also sammeln wir weitere Erfahrungswerte und Daten – und ich behandle und beobachte weiter.
Haben Sie schon Erklärungsansätze?
Schünemann: Ich habe mich an das erinnert, was ich als Student in meinem ersten Semester in Anatomie gelernt habe: In der Embryo-Entwicklung von uns Menschen erinnert der Bau unseres Gesichtes zunächst an ein Reptil. Im dritten Monat wandert unser frühes Kiefergelenk dann hoch ins Ohr.
Und aus diesen feinen Gelenkknochen werden danach die Gehörknöchelchen im Mittelohr, bilden im Grunde unser Ur-Kiefergelenk. Anders gesagt: Entwicklungsbiologisch sind Kiefer und Gehör anatomisch gekoppelt und als Einheit zu verstehen.
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Was ist denn vom einstigen Reptil bei uns jetzt noch übrig geblieben?
Schünemann: Ein Umstand kommt dazu, nämlich, dass aus dem ursprünglichen, knorpeligen Kiefer ein etwa vier Millimeter breites Band entsteht, das sich von der Kieferinnenseite hoch durch die Schädelbasis zum Mittelohr zieht. Dieses Band liegt auch zwischen der Zahn-Mund-Kieferheilkunde und der HNO und scheint lange Zeit übersehen worden zu sein.
Mir wurde klar: Wir haben per Griff und Schiene, ohne es zu wissen, auch an diesem Band gezogen. Das Innenohr wurde dadurch entlastet, der Ohrdruck deutlich reduziert. Und das scheint eine Rolle bei der Verminderung oder gar dem Verschwinden des Tons zu spielen.
Warum hat der Kiefer Einfluss auf das Innenohr?
Schünemann: Der Manuelle Tinnitus-Test reguliert das Volumen in der Hörschnecke und stellt die Form und die Spannung der feinen Membranen wieder her. Die mikroskopischen Flimmerhärchen sind an der Membran angewachsen und funktionieren wie biologische Schalter: Wenn das Hörorgan seine Ursprungsform zurückgewinnt, werden die Flimmerhärchen aufgerichtet und der Ton ausgeschaltet. Das Ohrgeräusch sinkt auf einer Zehner-Skala manchmal um zwei bis drei Punkte, manchmal aber auch ganz auf null.
Dauerhaft?
Schünemann: Das geschieht typischerweise nur kurz. Aber man kann sagen: Wenn sich die Flimmerhärchen ansprechen lassen – und das ist immer der Fall, wenn Erleichterung verspürt wird – kann dieser Zustand stabilisiert werden, dann gibt es eine gute Prognose, vom Tinnitus teilweise oder vollständig befreit zu werden. Wenn also der Manuelle Tinnitus-Test zur Besserung geführt hat, empfehle ich weitere Therapieschritte.
Welche sind das?
Schünemann: Dann kommt die Dekompressionschiene ins Spiel, die die Patienten nachts tragen. Sie hat die Wirkung eines feinen Keils: Beißen die Patienten im Schlaf zu, gleitet der Kiefer in eine definierte entspannte Position nach unten und vorne, wie in eine orthopädische Einlage.
Das Zusammenpressen des Gelenks wird verhindert, und am Morgen ist der Kiefer entspannt! Auch ist das Band durch die Schiene unter Zug gesetzt worden und hat das Innenohr entlastet. Wichtig ist, dass der Kiefer tagsüber weiter locker hängt. Dazu helfen unsere Übungen für zu Hause und am Arbeitsplatz.
Griff, Schiene, Übungen und noch mehr?
Schünemann: Ganz wichtig ist Manuelle Therapie, also Physiotherapie und Osteopathie, und zwar durch Therapeuten mit Erfahrung bei Kieferbehandlungen. Die Manuelle Therapie bezieht den gesamten Körper ein: Manchmal kommen Verspannungen des Kiefers von Traumata wie einer verdrehten Hüfte oder von Knieverletzungen. Die Zusammenschau der myofaszialen Ketten ist von großer Bedeutung.
Zahnarzt über Tinnitus-Erfolg: In dieser Zeit stellt sich die Verbesserung ein
Wann etwa ist mit einer Verbesserung zu rechnen?
Schünemann: Viele spüren sofort Erleichterung. Eine nachhaltige Verbesserung ist oft nach sechs bis zwölf Wochen zu spüren.
Welche Patienten kommen zu Ihnen?
Schünemann: Was die Betroffenen fast immer gemein haben: Sie sind anderswo bereits austherapiert. Ihr Tinnitus ist längst chronisch. Sie haben einen hohen bis sehr hohen Leidensdruck. Und sie sind nach dem vielen Ausprobieren deutlich niedergeschlagen.
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Kann Tinnitus nach erfolgreicher Therapie zurückkommen?
Schünemann: Ja, das kann sein. Häufig berichten meine Patienten, dass sie alles wieder im Griff hatten, dann aber in eine Stresssituation geraten sind, und der Ton nach kurzem Vorlauf zurück war. Aber dann wissen sie schon, was zu tun ist: Stabilisierung durch regelmäßiges Tragen der Schiene, konsequente Manuelle Therapie und Übungen im Alltag.
Zusammenarbeit mit Uni: Doktorarbeit lieferte wissenschaftlichen Beleg
Mit welchen Kosten muss man für den gesamten Behandlungszyklus rechnen?
Schünemann: Die Krankenkasse zahlt die Fertigung der Schiene und die Physiotherapie. Osteopathie und meine Leistungen, meist 1000 Euro, werden privat abgerechnet.
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Was sagt die Wissenschaft zu Ihren Erfolgen?
Schünemann: Ich erlebe jeden Tag, was bei meinen Patienten möglich ist. Und ich setze auf wissenschaftliche Begleitung. Wissenschaft kontrolliert und macht Therapien erklärbar und damit solide. 2019 hat mein damaliger Assistent in seiner Doktorarbeit den Zusammenhang zwischen dem Manuellen Tinnitus-Test und der Veränderung des Tons belegen können. Dafür hat er den Bestpreis unserer Fachgesellschaft gewonnen.
Eine zweite Doktorarbeit beleuchtet aktuell die anatomischen Zusammenhänge des Bandes. Ich finde wichtig, dass Forschung nicht nur aus der Universität, sondern auch aus der täglichen Praxis heraus möglich ist. Schritt für Schritt geht die Black Box weiter auf, und wir sehen klarer!
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