Berlin. Als Jessica Mach ihre AD(H)S-Diagnose bekam, macht auf einmal vieles Sinn. Hier erzählt sie, wie sie den Hyperfokus zur Stärke machte.
- Viele Betroffene erhalten AD(H)S-Diagnose erst im Erwachsenenalter
- Experte: Betroffene bringen häufig besondere Stärken oder Talente mit
- Auch im Spitzensport kann AD(H)S eine Rolle spielen
Ein Leben ohne Filter – so beschreiben viele Betroffene ihr Leben mit AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Konkret bedeutet das: Im Alltag strömen Gedanken, Geräusche und Gefühle ungebremst auf sie ein. Das Gehirn läuft auf Hochtouren. Abschalten fällt oft schwer bis unmöglich, hinzu kommen bei vielen Betroffenen Symptome wie Konzentrationsprobleme, Impulsivität und Hyperaktivität.
Besonders Erwachsene, bei denen AD(H)S erst später im Leben diagnostiziert wurde, haben nicht selten einen langen Leidensweg hinter sich: Probleme in der Partnerschaft, in der Familie oder im Beruf durchziehen die Lebensgeschichte. „Der Leidensdruck durch AD(H)S kann enorm sein. Es ist aber auch so, dass Menschen mit ADHS dadurch nicht nur Handicaps haben, sondern auch häufig ganz besondere Stärken und Talente mitbringen“, sagt Thilo Palloks, Facharzt für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie.
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„Sie sind häufig sehr kreativ, charmant und spannende Gesprächspartner. Für Dinge, für die sie Interesse haben, haben sie enorm viel Energie. Sie können dann wahnsinnige Leistungen erbringen und geradezu brillant sein“, so Palloks weiter. Nicht selten versinken Betroffene völlig in einer Aufgabe. Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, selbst der Gang zur Toilette treten in den Hintergrund. Dieser Zustand wird auch als „Hyperfokus“ bezeichnet.
ADHS-Betroffene: Diagnose mit 39 – plötzlich wird roter Faden sichtbar
Jessica Mach, Tätowiererin, Künstlerin, Autorin und Host des Podcast „Hyperfokuss“ kennt diesen Zustand: „Ich würde es als meine Superkraft bezeichnen, wenn ich im ‚Hyperfokus’ bin“, erzählt sie im Interview. Die 40-Jährige hat ihre AD(H)S-Diagnose vor einem Jahr bekommen.
„Die Diagnose war für mich erst mal überraschend“, so Mach. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sie nie Probleme mit AD(H)S-Symptomen gehabt. Doch als sie vor drei Jahren mit ihrem Mann aus Berlin in eine Kleinstadt nach Thüringen zieht, dort ein renovierungsbedürftiges Haus kauft und eine Familie gründet, verändert sich ihr psychischer Zustand. Alles wird zu viel, gleichzeitig bietet das Landleben für die Künstlerin weniger kreativen Input und kaum Abwechslung im Alltag. „Ich wusste damals nicht, ob ich eine Depression habe oder einfach nur erschöpft bin. Nach zwei Jahren war mir aber klar, dass ich Hilfe brauche.“
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Eine Psychologin diagnostiziert bei Mach schließlich eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung sowie eine Depression – eine typische Begleiterkrankung von AD(H)S, die sich oft nach größeren Veränderungen im Leben der Betroffenen entwickelt.
Typische AD(H)S-Lebenswege: Selbstständigkeit und Kreativität
Wenn Jessica Mach heute aus ihrem Leben erzählt, erkennt man schnell einen roten Faden, der für ADHS-Betroffene typisch ist: Sie hat zwei Berufe erlernt, ein Restaurant geführt und mehrere Kochbücher geschrieben. Dazu kommen Weiterbildungen, die Tätigkeit als Künstlerin und Tätowiererin und seit kurzem ein Podcast. „Ich habe in meinem Leben schon viel gemacht und ausprobiert, weil mich vieles interessiert“, sagt Mach.
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Dass sie keinen 9-to-5-Job will, weiß sie schon als Jugendliche. Für sie kommt nur eine selbstständige Tätigkeit in Frage. „Das ist bei AD(H)S-Betroffenen häufig der Fall. Sie machen sich beruflich oft selbstständig, weil das besser mit ihrer impulsiven und spontanen Natur vereinbar ist. Sie sind mutig, haben viel Energie, denken ‚out of the box‘. Sie lassen sich auch von Rückschlägen oft viel weniger verunsichern als Menschen ohne AD(H)S, weil sie sowieso schon wieder drei neue Ideen im Kopf haben“, sagt Psychiater Thilo Palloks.
Auch viele Prominente betonen inzwischen die Stärken und positiven Aspekte, die ihr AD(H)S für sie mit sich bringt. So sagte Eckart von Hirschhausen, dass er ohne seine sprunghafte Aufmerksamkeit nie Comedian geworden wäre. Auch Rekordschwimmer Michael Phelps oder Radsportlegende Jan Ullrich haben AD(H)S. „Der starke Bewegungsdrang, den AD(H)S oft mit sich bringt und die Bereitschaft, an die eigenen Grenzen und darüber hinaus zu gehen, bereiten im Alltag zwar oft Probleme. Für sportliche Höchstleistungen kann das aber auch von Vorteil sein“, erklärt Palloks.
Experte: „Menschen mit AD(H)S werden keine Buchhalter“
Um ihre Stärken und Besonderheiten ausleben zu können, brauchen Menschen mit AD(H)S nach Ansicht des Psychiaters jedoch besondere Bedingungen: „Hilfreich sind feste Strukturen und Rituale. Außerdem ein stabiles soziales Umfeld. Betroffene brauchen auch eine professionelle Aufklärung darüber, was AD(H)S genau bedeutet sowie die Möglichkeit zur Therapie und gegebenenfalls auch Medikation.“
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Wichtig sei außerdem auch eine Arbeit, die sie mit Leidenschaft ausüben können. „Menschen mit AD(H)S werden gewöhnlich keine Buchhalter. Sie wählen oft Berufe, die mit Action verbunden sind, wie Notarzt, Rettungssanitäter, Pilot oder Polizist. Beliebt sind auch Jobs im Bereich IT oder künstlerische Berufe, in denen sie ihre Fähigkeit zur Hyperfokussierung ausleben können.“
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Auch wenn ihre AD(H)S in einer Phase ihres Lebens sogar zu Depressionen geführt hat – könnte sich Jessica Mach ein Leben ohne AD(H)S vorstellen? „Nein“, sagt sie bestimmt. „Ich würde es nicht eintauschen wollen. Ich würde zwar nicht sagen, dass AD(H)S zu haben ‚Vorteile‘ hat. Aber AD(H)S bringt viele Eigenschaften mit sich, die sowohl Schwäche als auch Stärke sein können. Ich empfinde alles sehr intensiv. Das kann einerseits wunderschön, andererseits aber auch sehr schmerzhaft sein. Aber man kann das eine nicht ohne das andere haben.“ Ein neues Projekt hat die Künstlerin übrigens auch schon: Im Herbst beginnt sie eine Weiterbildung zur AD(H)S-Trainerin für Erwachsene.