Berlin. Steht das wichtigste Strömungssystem im Atlantik vor dem Kollaps? Neue Erkenntnisse verheißen nichts Gutes. Die Folgen wären verheerend.

Vereiste Häfen, ewige Winter: Ohne das gigantische Strömungssystem der Nordatlantischen Umwälzbewegung (AMOC) wäre die Nordsee oder die Elbmündung so unwirtlich wie die Hudson Bay in Kanada. Wie eine gigantische Warmwasserheizung schaufelt es wärmeres Wasser durch den Atlantik in den Norden Europas. Der Golfstrom ist wie auch der Nordatlantikstrom nur ein Teil des Systems, doch er gibt den jüngsten Katastrophenszenarien seinen Namen: Kollabiert der Golfstrom als Folg des Klimawandels früher als bislang befürchtet?

In der Wissenschaft mehren sich die Hinweise, dass dies sowohl möglich ist, als auch wahrscheinlicher wird. Bisherige Modelle legten die Vermutung nahe, dass sich die AMOC in den kommenden Jahrzehnten bis 2060 um 30 Prozent abschwächen könnte. Eine neue Studie aus Australien kommt nun zu dem Ergebnis, dass die Strömung schon bis 2040 erlahmt sein könnte: 20 Jahre früher als ursprünglich prognostiziert.

Australische Forscher: Wir haben das fehlende Teil im Klimapuzzle gefunden

Eine derart schnelle Abnahme der Umwälzströmung werde auf Klima und Ökosysteme massive Auswirkungen haben, warnen die Wissenschaftler Laurie Menviel und Gabriel Pontes von der University of New South Wales in ihrer Studie. So müsse Europa strengere Winter erwarten, die nördlichen Tropen trockenere Bedingungen. Die südliche Hemisphäre, darunter Australien und das südliche Südamerika, könnte mit wärmeren und feuchteren Sommern rechnen, schreiben die Forscher in einer Zusammenfassung im Wissenschaftsjournal „The Conversation“.

Warum aber verliert die AMOC so rasch an Kraft? Die australischen Forscher sind sich sicher, das fehlende Teil im Klimapuzzle gefunden zu haben: das Schmelzwasser der arktischen Gletscher Kanadas und des grönländischen Eisschilds, das in den bisherigen Klimamodellen nicht genügend berücksichtigt worden seien.

Gigantischen Mengen an Süßwasser würden so in den Atlantik fließen und das Meerwasser verdünnen.. Weil Süßwasser leichter sei als salziges Meerwasser, gelange weniger Wasser in die Tiefen des Ozeans – und schwäche auch den Golfstrom, der die Hauptroute für den nordwärts gerichteten Rückfluss warmen Wassers an der Oberfläche darstelle. Allein Grönland habe seit 2002 insgesamt 5900 Milliarden Tonnen Eis verloren.

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„Unser Klima hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Ein schnelleres Abschmelzen der Eisschichten wird die weitere Störung des Klimasystems beschleunigen“, schreiben die Forscher. „Das bedeutet, dass uns noch weniger Zeit bleibt, das Klima zu stabilisieren. Daher ist es dringend erforderlich, dass die Menschheit so schnell wie möglich Maßnahmen ergreift, um die Emissionen zu reduzieren.“

Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass der Golfstrom schon in wenigen Jahren zusammenbrechen könne. Wissenschaftler halten einige Schlussfolgerungen jedoch für unhaltbar.
Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass der Golfstrom schon in wenigen Jahren zusammenbrechen könne. Wissenschaftler halten einige Schlussfolgerungen jedoch für unhaltbar. © dpa/Picture Alliance | Unbekannt

Forscher debattieren seit Jahren über Kollaps des Golfstroms

Die wissenschaftliche Debatte über ein mögliches Abreißen des Golfstroms und die mutmaßlichen Folgen weltweit dauert seit nunmehr zwei Jahrzehnten an. Das Szenario gilt als einer der klassischen Kipppunkte im Klimasystem. Die Ursache sehen Forscher wie PIK-Experte Stefan Rahmstorf in der fortschreitenden Erderwärmung.

Rahmstorf zählt zu den Klimawissenschaftlern aus der ganzen Welt, die vor wenigen Wochen einen offenen Brief an den Nordischen Ministerrat schrieben. Darin warnen 44 Forscher, die zu den führenden Klimatologen zählen, die Arktis-Anrainerstaaten vor einer gefährlichen Entwicklung in der Atlantikströmung. „Wir, die Unterzeichnenden, sind Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Klimaforschung tätig sind, und halten es für dringend erforderlich, den Nordischen Ministerrat auf die ernste Gefahr einer größeren Änderung der Ozeanzirkulation im Atlantik aufmerksam zu machen“, heißt in dem Schreiben.

Dänische Studie: Golfstrom kann schon ab 2025 kollabieren

Bereits vor über einem Jahr kam eine Studie dänischer Forscher zu dem Ergebnis: Die gigantische „Wärmepumpe Europas“ könnte als Folge des Klimawandels eher als befürchtet bereits Mitte dieses Jahrhunderts kollabieren, möglicherweise schon deutlich früher.

Die Studie, die in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Nature Communications“ erschien, stützt sich auf die Wassertemperaturen in Teilen des Golfstromsystems zwischen 1870 und 2020. In den Daten In den Daten suchten die Autoren, die dänischen Forscher Peter Ditlevsen und Susanne Ditlevsen von der Universität Kopenhagen, nach Frühwarnsignalen. Aus der Analyse leiteten sie ab, dass der Golfstrom jederzeit ab dem Jahr 2025 zusammenbrechen könne und dies so gut wie sicher bis 2095 passieren werde. Sie schränken jedoch ein, dass dieser Kollaps sich auf Teile des Strömungssystems beschränken könnte und möglicherweise nicht den gesamten Golfstrom betreffen würde.

Krasser Widerspruch zum Bericht des Weltklimarats IPCC

Der IPCC warnt jedoch, dass ein Kollaps des Golfstroms verheerende weltweite Auswirkungen nach sich ziehen würde. Mehrere Klimastudien sehen als Folge eine massive Abkühlung in Europa. Im begleitenden Pressetext der neuen Studie heißt es, dass der Zusammenbruch des Golfstroms in der nördlichen Hemisphäre innerhalb eines Jahrzehnts zu Temperaturschwankungen von zehn bis 15 Grad führen könne.

Wissenschaftler haben Zweifel an Schlussfolgerungen

Die Studie der dänischen Forscher rief deutliche Kritik hervor. Für Prof. Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) etwa sind die Unsicherheiten „so groß, dass man auf Grundlage der Analyse historischer Daten keine Aussage zum Zeitpunkt des Kippens treffen kann.“ Bekannt sei, dass der Golfstrom an Stabilität verloren habe. „Alles darüber hinaus halte ich ehrlich gesagt für Spekulation“, sagte Boers dem „Science Media Center“.

Zudem widersprachen die Ergebnisse der Studie fundamental dem aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC. Demnach werde sich die Meeresströmung mit fortschreitendem Klimawandel zwar erheblich abschwächen, jedoch nicht im 21. Jahrhundert abreißen.

Anders sieht es Prof. Stefan Rahmstorf, Leiter des Forschungsbereiches Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Die neue Studie verstärke die Gewissheit, dass der Kipppunkt des Golfstroms „viel näher ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten“, so Rahmstorf. „Wie immer in der Wissenschaft liefert eine einzelne Studie nur begrenzte Beweise, aber wenn mehrere Ansätze zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen, muss dies sehr ernst genommen werden – vor allem, wenn es sich um ein Risiko handelt, das wir mit 99,9-prozentiger Sicherheit ausschließen wollen. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt nun, dass wir nicht einmal ausschließen können, dass wir bereits in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten einen Kipppunkt überschreiten.

Der Klimawandel sorge dafür, dass es über dem Nordatlantik und den benachbarten Landmassen mehr regnet. So gelange mehr Süßwasser in den Ozean, auch das schmelzende Eis der Arktis verdünne das Wasser des Nordatlantiks. Als Folge verlangsame sich das globale Förderband „Der Salzgehalt sinkt, das Meerwasser kann nicht mehr so leicht in die Tiefe gelangen, und deswegen strömt auch weniger von Süden nach“, so Rahmstorf. Über das Ausmaß dieser Abschwächung jedoch herrscht unter Wissenschaftlern immer noch große Unsicherheit. Noch sei es nicht möglich, mit Klimamodellen die künftige Entwicklung der Golfstromzirkulation genau vorherzusagen.

Fernheizung Nordeuropas und Pfeiler des Erdsystems

Der Golfstrom als Teil der Nordatlantischen Umwälzbewegung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, kurz AMOC), ist nicht irgendeine Strömung, sondern eine der wichtigsten Komponenten des Erdsystems. Dieses System von Meeresströmungen transportiert 30-mal so viel Wasser wie in allen Flüssen der Erde zusammen.

Wassermassen, etwa hundertmal so groß wie der Amazonas-Fluss, sagte Levke Caesar, Physikerin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, in einem Interview mit dem WDR. Ein Förderband, mehrere Kilometer breit und über tausende Kilometer lang, das sich durch den kompletten Atlantik bewegt, vom Süden bis in den Norden. Dessen Wärmeleistung so viel Kilowatt umfasst, wie theoretisch zwei Millionen Atomkraftwerke zusammen produzieren könnten.

Der Golfstrom als gigantische Umwälzpumpe: Das Strömungssystem transportiert warmes Wasser (rosa) in den Norden, kaltes Wasser (hellblau) strömt nach Süden.
Der Golfstrom als gigantische Umwälzpumpe: Das Strömungssystem transportiert warmes Wasser (rosa) in den Norden, kaltes Wasser (hellblau) strömt nach Süden. © DKRZ | Deutsches Klimarechenzentrum

Sein wichtigstes Merkmal aber: Die Strömung ist eine gigantische Umwälzpumpe, eine Fernheizung für Nordeuropa, die uns ein mildes Klima beschert. Denn sie transportiert sie warmes Wasser aus dem subtropischen Süden bis an die Küsten Europas und Grönlands.

Golfstrom lässt Palmen an Irlands Küste wachsen

Ohne Golfstrom wären unsere Winter so hart wie in Sibirien. Elbmündung und Nordsee wären monatelang vereist. In ihnen würden Eisberge und Eisbären schwimmen, so wie in der Hudson Bay in Kanada, die auf dem gleichen Breitengrad liegt, aber eben nicht in den Genuss der Zentralheizung kommt. Dank des Golfstroms wachsen an Irlands Südwestküste Palmen und dürfen sich die Norweger an der Westküste über Erdbeeren und eisfreie Häfen freuen.