Düsseldorf. Mädchen, Musik, Moschee: So will der NRW-Verfassungsschutz junge Muslime im Netz vor falschen Predigern bewahren. Ein Problem drückte.

„Du und ich haben genug Reichweite“, beschwört ein islamistischer Influencer seine Netzgemeinde und verschluckt dabei aufgebracht die Vokale. „Lass‘ ein Zero machen in Berlin“, zetert er. „Wir hauen alles kaputt, was wir sehen.“ Ein Aufruf zum Terror-Anschlag? Oder doch nur die verbale Kraftmeierei der sozialen Netzwerke? Vielleicht auch irgendetwas dazwischen.

Es sind jedenfalls beklemmende Videosequenzen, die der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz am Mittwochmorgen in einem kleinen und unscheinbaren Souterrain-Büro in Düsseldorf-Unterbilk vorführt. Hier arbeitet normalerweise eine von landesweit 25 Beratungsstellen von „Wegweiser“, dem Präventionsprogramm des Landes gegen islamistischen Extremismus.

NRW-Präventionsprogramm Wegweiser: 1500 Personen wurden beraten

Seit der Gründung im Jahr 2014 sind in NRW 1500 Personen durch „Wegweiser“ direkt beraten worden. Die mit Abstand größte Gruppe war zwischen 14 und 17 Jahre alt. Darüber hinaus gab es rund 40.000 Anfragen von Schulen, Vereinen und anderweitigen Institutionen. Im Zuge des neu entflammten Nahost-Konflikts ist der Bedarf zuletzt sogar noch einmal gewachsen. Die Beratungszahlen seien im letzten Quartal um rund 35 Prozent angestiegen, heißt es beim Verfassungsschutz.

Doch das veränderte Mediennutzungsverhalten der nachwachsenden Generation schlägt sich auch auf die Erscheinungsformen des Islamismus nieder. Als die damalige rot-grüne Landesregierung „Wegweiser“ vor zehn Jahren konzipierte, plagte sie sich noch mit Koran-Verteilaktionen von Salafisten in Fußgängerzonen herum. Inzwischen hat sich bei Heranwachsenden die Suche nach Orientierung zu einem Gutteil zu Instagram, Youtube und Tiktok verlagert. Dort treffen sie auch ihre falschen Prediger.

NRW startet als erstes Bundesland Beratung gegen Islamismus per Live-Chat

Umgang mit Mädchen, Mode und Musik, mit Schmuck, den eigenen Eltern und dem Moscheebesuch – mit den Influencern im Netz wird alles verhandelt. Dieser digitalen Missionierung standen staatliche Stellen, die traditionell auf persönliche Kontakte und Hilfsangebote vor Ort angelegt waren, lange recht ohnmächtig gegenüber.

„Wir müssen dahin gehen, wo die jungen Leute sind, und da sein, wo radikalisiert wird“, sagt Innenminister Herbert Reul (CDU). Deshalb hat NRW am Mittwoch als erstes Bundesland auf seiner „Wegweiser“-Webseite eine Online-Beratung per Live-Chatfunktion gestartet. Auch abends und am Wochenende kann man dort vertraulich einen der 80 Berater kontaktieren. Dabei handele es sich um „echte Menschen und keine Bots“, wie man das vom Online-Shopping kenne, betont Verfassungsschutz-Chef Jürgen Kayser. Es sind eigens geschulte Sozialarbeiter, Pädagogen, Islamwissenschaftler im Schichtsystem.

Wenn sich das eigene Kind oder der Klassenkamerad plötzlich verändert, übertrieben religiös wird, komische Videos schaut oder sich für islamistische Prediger interessiert, soll man hier möglichst niederschwellig und unverbindlich Ansprechpersonen finden. „Wegweiser“ richtet sich ebenso an junge Muslime selbst, die um den „richtigen“ Weg ihrer Glaubensausübung ringen. Sie fühlen sich bisweilen von vielen Seiten bedrängt und müssen erst lernen, dass der Islam eine vielfältige Religion, die ganz unterschiedlich praktiziert wird.

Islamismus-Prävention: NRW leistet Beratung im Schichtdienst

Das neue Angebot gelte „für alle, die zum Thema Fragen haben, also auch Eltern, Freunde, Lehrerinnen und Lehrer – auch am Abend, wenn die Gedanken kreisen und man den Tag verarbeitet und vielleicht gar nicht so richtig weiter weiß“, sagt Reul, der selbst vor seiner politischen Karriere jahrelang als Studienrat für Sozial- und Erziehungswissenschaft gearbeitet hat. Es gehe darum, „dass man junge Leute – und wenn es nur einzelne sind – rausholt oder davor bewahrt, dass sie abrutschen.“

Wer nachts schreibt, bekommt eine Antwort, sobald ein Berater wieder online ist. Der Ratsuchende könne völlig anonym bleiben, so Verfassungsschutz-Chef Kayser. „Das Chatsystem selbst speichert auch keine IP-Adresse.“ Genau diese hohen Datenschutzanforderungen haben offenbar dazu geführt, dass NRW mehrere Jahre an der Einrichtung der neuen Chat-Beratung gebastelt hat. „Es war sauschwierig“, räumt Reul ein. Es gehe um vertrauliche Daten und persönliche Probleme, mit denen Sicherheitsbehörden außerordentlich sensibel umgehen müssten, sagt Kayser. Es sei also „kein Chatsystem von der Stange“.