Essen. Protest gegen die Ampel: In der Flüchtlingskrise suchen Wähler Antworten bei rechten Parteien. Experte erklärt, was der Trend für NRW bedeutet.

Nach den Wahlerfolgen in Hessen und Bayern nehmen die Freien Wähler weitere Bundesländer und sogar den Bundestag ins Visier. „Diese Welle darf nicht an den bayrischen Grenzen haltmachen“, sagte Parteichef Hubert Aiwanger am Sonntag. Auch der Einzug in den Bundestag sei 2025 möglich, glaubt der Politiker. Warum schnitten Parteien des rechten Spektrums am Sonntag so stark ab? Ist ein solcher Anstieg auch in NRW möglich? Darüber sprachen wir mit Prof. Achim Goerres, Politikwissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen.

Beide Landtagswahlen zeigten ein deutliches Erstarken der Parteien rechts von der Union. Wie erklärt sich dieser Entwicklung?

Achim Goerres: Für mich als Politikwissenschaftler ist das nicht überraschend. Zwei Effekte begründen diesen Trend. Erstens: In der Bundesregierung ist keine konservative Partei vertreten und wir sehen sehr häufig, dass die Wahlberechtigten dann bei anschließenden Landtagswahlen ihrem Unmut über die Regierung Luft machen und aus Protest ihr Kreuz bei anderen Parteien machen. Und im politischen Spektrum rechts von der Bundesregierung ist derzeit viel Platz.

Achim Goerres ist Professor für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.
Achim Goerres ist Professor für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. © FUNKE/Fotoservices | Gerd Wallhorn

Und der zweite Effekt?

Der wird von der Migrationskrise bestimmt. Der Ukraine-Krieg und die Fluchtbewegungen über das Mittelmeer sind bei den Wählern derzeit sehr präsent, das Thema ist mit Ängsten und Befürchtungen verbunden. Das spielt Politikern und Parteien in die Hände, die migrationskritische Positionen vertreten.

In NRW kamen die Freien Wähler bei der Landtagswahl 2022 auf nur 0,7 Prozent der Stimmen. Nun zielt die Partei auf andere Bundesländer und hat sogar bundespolitische Ambitionen. Ist das realistisch?

Das ist schwer vorauszusagen. Doch bundespolitisch erfolgreich zu sein, ist nochmal eine ganz andere Hausnummer. Die Freien Wähler sind vor allem in Bayern verortet. Es reicht nicht, nur in einem Bundesland erfolgreich zu sein. Um bundesweit über die Fünf-Prozent-Hürde zu springen, müsste die Partei mehr als 2,3 Millionen Stimmen einsammeln. Dafür müsste die Partei auch in NRW sehr viele Stimmen holen.

Sehen Sie in NRW ein größeres Wählerpotenzial rechts von der CDU?

Das hängt mit der allgemeinen politischen Stimmung zusammen. Wenn es in einem Ort sozial akzeptierter ist, eine rechte Partei zu wählen, gewinnen alle Parteien des rechten Spektrums Stimmen hinzu. Das sehen wir regelmäßig bei unseren Wahlanalysen in Essen. Wenn in einem Stadtteil die AfD zulegt, werden zeitgleich dort auch andere rechte Gruppierungen stärker. In Umfragen sehen wir, dass immer mehr Menschen sich vorstellen können, eine rechte Partei zu wählen. Dadurch erkennen viele Wählerinnen und Wähler, dass dies offenbar sozial akzeptiert ist und folgen dem Trend leichter.

Welche Rolle spielen die vielen Freien Wählergemeinschaften in NRW?

In NRW sind freien Wählergruppen in vielen Kommunalparlamenten vertreten. Ihre politische Ausrichtung ist aber sehr uneinheitlich, ihr Spektrum reicht von rechts bis links. Aber man muss sehen, dass auch Politik wie ein Markt funktioniert. Wenn die Nachfrage nach migrationskritischen und konservativen Positionen steigt, lohnt es sich für Parteien, in dieser Richtung mehr Angebote zu machen.

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Demnach wäre auch in NRW ein Aufschwung der Freien Wähler möglich?

Wenn viele Wähler den Eindruck haben, dass das bestehende politische Angebot ihre Erwartungen nicht abdeckt, dann sind sie bereit, auch zu neuen Parteien zu gehen. Das hatten wir schon einmal in NRW mit der Piraten-Partei. Das könnte in anderer Form wieder passieren, denn es gibt keine starke Parteienbindung der Wählerschaft mehr.

Wie könnten die etablierten Parteien gegensteuern?

Wenn SPD, Union und FDP gemeinsam ein großes Maßnahmenpaket zur Begrenzung der Migration schnüren würden, gäbe es keinen Grund mehr, eine migrationskritische Partei zu wählen. Das wäre eine Strategie, dem rechten Spektrum das Wasser abzugraben. Doch für die Grünen, die im Kern migrationsfreundlich sind und Vielfalt befürworten, wäre das ein Problem. Das könnte im Bund die Ampel zerreißen.

Werden die jüngsten Wahlergebnisse Einfluss auf die Politik der Landesregierung in NRW haben?

Ich glaube nicht, dass sich Schwarz-Grün in Düsseldorf von den Ergebnissen kurzfristig beeinflussen lässt. Die Landesregierung dürfte heilfroh sein, dass die nächste Landtagswahl erst 2027 stattfindet. Dann kann die Stimmungslage wieder ganz anders aussehen. Doch bei der Europa-Wahl Mitte 2024 werden viele Wähler sicherlich wieder die Gelegenheit nutzen, die etablierten Parteien abzustrafen und aus Protest eine extreme Partei wählen.

>>>> Die Freien Wähler in NRW

In NRW haben die Freien Wähler 2011 einen Landesverband gegründet und treten seitdem zu Landtagswahlen an. 2017 erhielten sie 0,4 Prozent der Stimmen, 2022 waren es 0,7 Prozent. Die Partei ordnet sich dem wertkonservativen Lager zu und betont ihre bürgerlich-liberale Gesinnung.

Trotz ähnlicher Bezeichnung grenzen sich die Freien Wählergemeinschaften in NRW von der Partei ab. Der Landesverband ist die Dachorganisation zahlreicher unabhängiger Bürger- und Wählergemeinschaften in NRW. Freie Wählergruppen sind in vielen Kommunalparlamenten vertreten, dazu gehört zum Beispiel das Essener Bürger Bündnis (EBB), die Bürgerliste Dortmund oder der Bürger Bund Bonn.