Neuss. Unfälle mit Fußgängern mehren sich in NRW. Ein Grund sei die „Generation Kopf unten“. Was lässt sich gegen Ablenkung etwa durchs Handy tun?

  • Die Stadt Neuss testet sogenannte Smombie-Ampeln.
  • Weltweit gibt es Versuche, ob sich durch Technik Unfälle mit Dauer-Smartphone-Guckern verhindern lassen.
  • Die Verkehrswacht NRW fordert etwas ganz anderes - auch, dass Fußgänger mit Handy im Straßenverkehr sich "Aufmerksamkeitspunkte" schaffen.

Das Ampellicht strahlt kräftig nach unten, selbst bei hellster Sonne sind die Füße auf dem Gehweg in rotes Licht getaucht: An einer Kreuzung in der Nähe der Innenstadt testet die Stadt Neuss seit Jüngstem sogenannte Smombie-Ampeln. Sie sollen helfen, Fußgänger-Unfälle zu verhindern – von Dauer-Smartphone-Guckern, denn das bedeutet die Wortschöpfung aus Smartphone und Zombie. Nur: Für sinnvoll halten einige das nicht.

„Es würde mich überraschen, wenn das einen positiven Effekt hätte“, sagt Dr. Dirk Boenke von der Kölner Forschungsgesellschaft Stuva. „Bisherige Analysen zeigen eher, dass es ein grundsätzliches Akzeptanzproblem gibt, an einer roten Ampel stehenzubleiben. Mit einer Bodenampel gehen diese Personen dann ‚bewusster‘ bei Rot“, fügt er an.

Smombie-Ampel in Neuss: Hersteller sieht „die Lösung für das Smartphone-Zeitalter“

Das österreichische Unternehmen Swarco sieht sein SafeLight genanntes Produkt indes als „die optimale Lösung für das Zeitalter der Smartphones“: Das Ampel-Licht wird „auf den Gehsteig projiziert wie bei einer Boden-Ampel und reflektiert, je nach Position des Fußgängers, das rote Ampellicht am Display des Smartphones“, beschreibt das Unternehmen: Somit werde „die Aufmerksamkeit der ‘Head-Down-Generation‘ wieder auf die Straße (gelenkt).“ Seit 2020 seien inzwischen in 14 Ländern weltweit Testanlagen installiert, sagt eine Sprecherin. Ampeln müssten, je nach Modell, nur mit dem speziellen Leucht-Modul nach- oder umgerüstet werden. >> Auch interessant:„Generation Kopf unten“ - Wie einsam macht das Smartphone?

Vorsicht, Rotlicht-Bezirk: An der Kreuzung Fesserstraße/Weißenberger Weg in Neuss leuchten Ampeln auch nach unten - um Dauer-Handy-Gucker zu warnen.
Vorsicht, Rotlicht-Bezirk: An der Kreuzung Fesserstraße/Weißenberger Weg in Neuss leuchten Ampeln auch nach unten - um Dauer-Handy-Gucker zu warnen. © Dagobert Ernst

Auch die Verkehrswacht NRW hält davon nichts: „Mit solchen Ampeln wird eine Schein-Sicherheit geschaffen“, kritisiert Vizepräsident Peter Schlanstein, der auch Dozent an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Münster ist. „Fußgänger verlassen sich dadurch auf Ampel-Technik. Sie werden womöglich noch mehr abgelenkt, statt wo es nötig ist, auf den Verkehr zu achten“, meint Schlanstein.

„Durch Bodenampeln ändere ich nicht das Verhalten“

Die Stadt Köln hatte Ähnliches schon vor einigen Jahren probiert - und nicht weiter ausgerollt. LED-Leuchten wurden an einem Straßenbahnübergang in den Boden eingelassen und blinken rot, wenn sich eine Bahn näherte. Befragungen hätten jedoch gezeigt: „Durch die Bodenampeln ändere ich nicht das Verhalten der Menschen, im Straßenverkehr auf ihr Smartphone zu verzichten, sondern ich reagiere und biete eine Lösung an, durch die sich die Personen womöglich sogar sicherer fühlen, weil das Rotlicht jetzt trotz Smartphone-Nutzung besser wahrzunehmen ist“, sagt Dirk Boenke.

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23 Prozent aller Verkehrstoten weltweit sind Fußgänger. Das hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Verkehrsstatistik ermittelt. In Europa waren 21 Prozent der im Straßenverkehr tödlich Verunglückten zu Fuß unterwegs, informiert die Initiative „Runter vom Gas“ von Bundesverkehrsministerium und Deutschem Verkehrssicherheitsrat.

Steigende Unfallzahlen bei Fußgängern in NRW

In NRW sehen wir bei Fußgänger-Unfällen leider steigende Zahlen“, sagt Peter Schlanstein. Zwar sei 2022 die registrierte Zahl getöteter Fußgänger von 78 (2021) auf 65 (2022) um 20 Prozent zurückgegangen. Doch die polizeilich bekannt gewordene Anzahl verunglückter Fußgänger mit Verletzungen stieg von 5769 in 2021 auf 7064 im Jahr 2022 – also um fast 20 Prozent. „Ablenkung“, etwa durchs Smartphone, ist in der Verkehrsunfallstatistik erst seit 2021 gesonderte erfasst – aber nur für Auto- oder Motorradfahrer, sagt Peter Schlanstein. Zu Fußgänger-Unfällen fehlen diese Daten. Es wäre gut, man wüsste mehr, sagt Schlanstein, „weil dieses dauernde-aufs-Handy-Gucken im Straßenverkehr auch bei Fußgängern auffallend zugenommen hat“, wie er meint.

Smombie-Ampel in Neuss: Acht Ampeln hat die Stadt testweise installieren lassen.
Smombie-Ampel in Neuss: Acht Ampeln hat die Stadt testweise installieren lassen. © Dagobert Ernst

Eine Auswertung in Österreich ergab, dass jeder fünfte Unfall mit Fußgänger-Beteiligung durch eigene Ablenkung verursacht worden ist; „das wird auch in Deutschland kaum anders sein“, glaubt Schlanstein. Und Studien aus England hätten gezeigt, „dass man durchs Handy oder andere technische Geräte abgelenkt, bis zu zwei Sekunden länger braucht, um eine Straße mit drei bis vier Fahrspuren zu überqueren. Damit steigt auch das Unfallrisiko“, warnt der Verkehrssicherheits-Experte.

Verkehrswacht NRW fordert Tempo 30 in Innenstädten

Wenn Smombie-Ampeln nicht die Lösung sind, was dann? „Man sollte besser darüber reden, die Höchstgeschwindigkeit in Innenstädten generell auf Tempo 30 zu reduzieren, mit positiv beschilderten Hauptverkehrsstraßen für 50 km/h. Damit würde man für die Verkehrssicherheit viel mehr bewirken“, sagt Schlanstein. „Bei Unfällen mit Kraftfahrzeugen und dem Fußverkehr spielt die Geschwindigkeit eine wesentliche Rolle für die Überlebenschancen eines zu Fuß gehenden“, sagt auch Boenke. >> Ruhrgebiet: Städte wollen mehr Tempo 30 - Bringt das was?

Vielleicht ließe sich auch rechtlich was verändern, um das Unfallrisiko zu senken, meint Peter Schlanstein: „Fußgänger mit dem Smartphone vor der Nase begehen rechtlich bisher keinen Verkehrsverstoß, sofern sie niemanden konkret behindern, gefährden oder gar schädigen.“ Falls doch was passiert, drohe allenfalls ein Verwarngeld zwischen 5 und 15 Euro.

Helleres Ampellicht, bessere Wartebereitschaft?

Es gab in Köln auch noch einen interessanten technischen Versuch, erinnert sich Dirk Boenke: Die Glasschablonen in den Ampel-Leuchten wurden am genannten Straßenbahnübergang umgedreht: „Statt rotem Männchen bei schwarzer Schablone, gab es dann eine rote Vollscheibe mit schwarzem Männchen.“ Ergebnis: Das Ampellicht war heller. Und es habe sich gezeigt, dass es eine höhere Wartebereitschaft bei rotem Lichtsignal gab und auch mehr Leute angaben, bei rotem Lichtsignal zu warten.“ Wissenschaftlich genau ließ sich der Effekt jedoch leider nicht belegen, meint Boenke.

An der Kreuzung in Neuss leuchten die Ampel auf herkömmliche Weise: Helles Männchen, vor schwarzem Hintergrund. Ließe sich da vielleicht was machen? Forscher Dirk Boenke führt dies zu einer „etwas ketzerischen Frage“, wie er sagt: „Sollen wir auf jedes Fehlverhalten mit technischen Maßnahmen zur Kompensation reagieren? Muss ich für jeden Fall, bei dem sich Menschen nicht regelkonform verhalten, Vorsorge treffen – die dann von allen finanziert werden muss? Sollten wir nicht mehr Energie zur Verhaltensänderung aufwenden?“

Tipp für Smartphone-Nutzer: „Aufmerksamkeits-Punkte schaffen“

Dazu rät auch Peter Schlanstein: „Man sollte sich als Smartphone-Nutzer ‚Aufmerksamkeits-Punkte‘ schaffen, also zum Beispiel am Gehwegrand stehen bleiben, wenn man Nachrichten liest", sagt er. Am Stopp-Streifen an einer Straße sollte man "das Smartphone sinken lassen", sagt Schlanstein - "und den Verkehr in den Blick nehmen." Zudem sollte man auf die Geräusche achten und sein Blickfeld erweitern“, rät er.

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Sein Plädoyer an alle im Verkehr: „Man muss sich etwas Geduld gönnen, wenn man eine Straße überquert." Und man sollte dabei den Blickkontakt mit der Person am Auto-Steuer suchen, um zu erkennen: ‚Hat sie mich gesehen, lässt sie mich über die Straße?‘“

>> Hintergrund: Tempo 30 für mehr Sicherheit

Es ist proportional häufiger, dass Fußgänger und Radfahrer im Verkehr verletzt werden, als Autofahrer, weil die in einem Fahrzeug besser geschützt sind. Bei Unfällen mit Kraftfahrzeugen und dem Fußverkehr spielt die Geschwindigkeit eine wesentliche Rolle für die Überlebenschancen eines zu Fuß gehenden. „Bei 30 km/h maximaler Geschwindigkeit wären die Unfallfolgen mit Sicherheit geringer als wir das heute kennen“, sagt Dirk Boenke von Forschungsgesellschaft Stuva in Köln. Ein international mehrfach bestätigtes Rechenmodell eines schwedischen Unfallforschers macht laut Peter Schlanstein, Vizepräsident der Verkehrswacht NRW, klar: Das Unfallrisiko bei einem erwachsenen Fußgänger liegt unter zehn Prozent, wenn er durch ein Auto mit Tempo 30 angefahren wird, bei 50 km/h beträgt es bereits 40 Prozent, bei 80 km/h jedoch nahezu 100 Prozent. Und: „Die Werte sind bei Senioren höher“, sagt Schlanstein. (dae)