Essen. Trotz hoher Schulden, Armut und Arbeitslosigkeit: Städte im Ruhrgebiet punkten mit Fachkräften, jungen Unternehmen und vielen Hochschulen.
Marode Städte, extreme Schulden, hohe Arbeitslosigkeit, Armut und geringere Lebenserwartungen – im Vergleich der Lebensverhältnisse mit anderen Regionen ist das Ruhrgebiet in vielen Punkten Schlusslicht. Dennoch gibt es einen Hoffnungsschimmer: Vor allem Großstädte und Metropolen mit einem hohen Anteil an Fachkräften und einer „überdurchschnittlichen Attraktivität“ für Akademiker und Akademikerinnen sowie vielen Unternehmensgründungen haben gute Chancen, im Wettbewerb der Regionen in Deutschland aufzuholen.
Das Dortmunder Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) zählt das Ruhrgebiet somit zu einer Region mit guten Zukunftsaussichten. „So lebt ein Drittel der Menschen der ursprünglichen Krisenregion Ruhrgebiet in Städten mit sehr guten Entwicklungsperspektiven“.
Vergleich von 400 Kommunen
Dies ist ein Ergebnis der ILS-Studie im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, für die ein Forschungsteam des Dortmunder Instituts untersucht hat, wie ungleich die Lebensverhältnisse in 400 Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland derzeit sind und wie es um ihre Zukunftschancen bestellt ist.
Dafür beschränkten sich die Wissenschaftler nicht wie in vielen anderen Untersuchungen auf wenige Parameter wie Einkommen, Schulden oder Arbeitslosigkeit. Stattdessen untersuchte das Team eine ganze Palette von Kriterien. Sie fragten zum Beispiel: Wie viele Beschäftigte haben einen Hochschulabschluss? Wie viel investiert eine Kommune in die Infrastruktur? Wie erreichbar ist der nächste Hausarzt? Wie hoch sind die Gehälter und die Armutsquoten? Insgesamt 21 Indikatoren fasste das Team zusammen und ordnete die Kreise in Deutschland entsprechenden Mustern zu.
Jahrzehnte des Niedergangs
Bei der Analyse des Ist-Zustands ergab sich für das Ruhrgebiet das bekannte Bild. Zwar waren die Städte an Rhein und Ruhr nach dem Zweiten Weltkrieg Motoren des Wirtschaftswachstums, doch die Industrien, die diesen Reichtum brachten, sind seit Jahrzehnten im Niedergang. „Viele Städte im Ruhrgebiet sind immer noch vom Strukturwandel geprägt“, sagt Studienautor Bastian Heider, Leiter des Bereichs „Geoinformation und Monitoring“ am ILS, der WAZ. „Hier sehen wir eine Konzentration von Nachteilen wie Armut, klamme Kommunen, viele Schulden, hohe Arbeitslosigkeit und so fort.“
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Die Studie beleuchtet die Lage in diesen „altindustriell geprägten Städten mit strukturellen Herausforderungen“, wozu neben den Ruhrgebietsstädten zum Beispiel auch Bremerhaven gewertet wird. In solchen Regionen leben in Deutschland insgesamt knapp sieben Millionen Menschen, gut acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Hier sind die Gehälter und der Anteil der Akademiker im Vergleich zu anderen Großstädten niedrig und die kommunalen Schulden gewaltig. Die Städte haben kaum Spielräume für Investitionen und wenden überdurchschnittlich viele Haushaltsmittel für Sozialausgaben auf. Zudem ist die Armutsrate hoch und die Lebenserwartung niedriger als in anderen Regionen Deutschlands.
Attraktiv für ausländische Fachkräfte
Obwohl das aktuelle Bild auch für das Ruhrgebiet eher düster ist, sieht die ILS-Studie für einige Städte im Revier positive Entwicklungschancen. „Städte wie Essen, Dortmund und Bochum gehören wie Hamburg, München, Köln oder Frankfurt zu den Innovationspolen in Deutschland, die gut für die Zukunft aufgestellt sind“, sagt ILS-Forscher Heider.
Das bedeutet: Es leben dort vergleichsweise viele gut qualifizierte Menschen, es gibt zahlreiche Hochschulen und Unternehmensgründungen sowie eine hohe Anziehungskraft für ausländische Fachkräfte, Studierende und Akademiker. „Langfristig ist diese Vielfalt wegen des demografischen Wandels die einzige Möglichkeit, dem Mangel an Fachkräften zu begegnen“, betont Heider.
Politischer Handlungsbedarf
Gerade mit dem Blick auf die aktuellen Krisen sieht die Studie politischen Handlungsbedarf. „Die Konzentration vieler krisenhafter Erfahrungen, die Zuwanderung von Flüchtlingen, die Coronapandemie, der Angriffskrieg in der Ukraine, Inflation und Klimakrise führen bei vielen Menschen zu Verlustängsten und Verunsicherungen.“ Statt eines Aufstiegsversprechens gebe es Zukunftsängste und Verlusterfahrungen. Umso wichtiger sei es daher, Wirtschaft und Gesellschaft „zukunftsfester“ zu machen.
Für das Ruhrgebiet heiße dies unter anderem, die Kommunen finanziell zu entlasten und die Altschuldenproblematik zu lösen, erklärt Heider. Zudem müsse der Strukturwandel vorangetrieben und breiter aufgestellt werden. „Wir sollten nicht nur auf High-Tech setzen, sondern eine breitere Förderung von Beschäftigung in den Blick nehmen.“ Zudem würden Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, ein angemessener Mindestlohn sowie eine „auskömmliche Kindergrundsicherung“ vor allem strukturschwache Regionen wie das Ruhrgebiet stabilisieren.