Gelsenkirchen. Der Leiter der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkirchen und die Lehrergewerkschaft schlagen Alarm. „Wir haben bereits eine Bildungskatastrophe“
Immer wieder hat Schulleiter Achim Elvert mit seinem Stellvertreter gerechnet. Aber es hilft nichts: 200 Unterrichtsstunden pro Woche müssen an der Gesamtschule Ückendorf gekürzt werden. Das sind mehr als zwölf Prozent des eigentlich vorgegebenen Unterrichts. 1200 Schüler gehen hier zur Schule, fast ausschließlich mit Migrationshintergrund und überwiegend aus benachteiligten Familien. „Letzten Endes sorgen wir dafür, dass diese Schülerinnen und Schüler eine Chance haben, an der Gesellschaft teilzunehmen“, sagt Elvert. Doch das Schulsystem ist überlastet, längst ist die Rede von der „Bildungskatastrophe“.
Ein Gespräch mit Achim Elvert und Lothar Jacksteit, Gelsenkirchener Lehrer und Gewerkschafter.
WAZ: Kürzlich war ein Kamerateam für eine Reportage bei Ihnen in der Gesamtschule Ückendorf und hat Schüler und Lehrer von Internationalen Förderklassen begleitet. Also Klassen, in denen Kinder und Jugendliche mit Flucht- und Migrationshintergrund zunächst einmal so gut es geht Deutsch lernen sollen, ehe sie in eine Regelklasse gehen. Die Eindrücke waren ziemlich bedrückend, da fehlt einem offengestanden die Fantasie, wie diese Kinder es im regulären Schulsystem schaffen sollen?
Achim Elvert (nickt): Es gibt zwar auch positive Karrieren. Aber natürlich ist es so, dass wir mit den Mitteln, die da sind, nicht alles reparieren können, was strukturell problematisch ist. Die schiere Menge der Kinder, die kein Deutsch können, ist das Problem. Gleichzeitig sind sehr, sehr viele Leistungsinhalte sprachabhängig. Und wenn zusätzlich noch die elterliche Unterstützung aus Unverständnis, Überforderung oder warum auch immer nicht da ist, und Schule nicht Punkt eins, sondern eher drei oder vier auf der Prioritätenliste ist, wird es extrem schwierig.
Lothar Jacksteit: Wir müssen uns den Realitäten stellen, dass der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund an vielen Schulen sehr hoch ist. Das heißt, das Verhältnis, das wir uns eigentlich wünschen, damit Integration und Spracherwerb gelingt, das haben wir an den allermeisten Grundschulen beispielsweise schon gar nicht mehr. Und wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen, wie wichtig ist uns eigentlich Bildung, und damit auch, wie wichtig sind uns die Menschen, die zu uns kommen?
WAZ: Was meinen Sie?
Lothar Jacksteit: Die Bundesregierung richtet ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Anschaffung von Kriegsgerät ein, also erst mal zur Vernichtung von Menschen. Aber attraktive Arbeitsplätze in Schulen können wir nicht anbieten, weil die Kolleginnen und Kollegen alleingelassen sind mit den Herausforderungen. Sie geben das Allerbeste, aber merken, dass sie im Grunde genommen dieser Fülle an Problemen nicht gerecht werden können.
Achim Elvert: Und die Herausforderungen sind ungerecht verteilt.
- Dieser Text ist Teil des Online-Dossiers „Bildungskatastrophe: So steht es um unser Schulsystem“ der WAZ Gelsenkirchen. Alle Analysen, Berichte und Reportagen zum Thema finden Sie hier!
WAZ: Sie spielen auf die vergleichsweise vielen verschiedenen Schulformen an, Herr Elvert. Glauben Sie, eine einzige weiterführende Schulform, in der man vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur alle Abschlüsse erlangen kann, könnte den Druck von den Problemschulen nehmen?
Achim Elvert: Ja, da geht nur politisch keiner dran, weil die politische Schicht eben aus dieser geschützten Blase herauskommt. In einem integrativen System könnte man viel besser schauen, wie man die Schülerinnen und Schüler auf alle Schulen verteilt und ein Abbild der Stadtgesellschaft schaffen. Dann erreichen wir zwar auch kein Idealverhältnis von 5 zu 20 [Anm. d. Red.: 5 Kinder mit besonderem Förderbedarf, etwa bei der Sprache], aber zumindest ein Verhältnis von 12 zu 13.
Lothar Jacksteit: Wir könnten vielen Schülerinnen und Schülern auch den Misserfolg und die Versagenserfahrung ersparen, abgeschult zu werden, und sie vielmehr motivieren, wenn sie in einem durchlässigen System wären.
Und im jetzigen System, was könnte zeitnah aktuell Linderung schaffen?
Elvert: Wenn Extra-Budgets auch stärker für Personal verwendet werden dürften. Und das Geld nicht sofort, binnen eines halben Jahres verbraucht sein müsste, sondern längerfristig nutzbar wäre, wir damit planen könnten. Im Rahmen von Aufholen nach Corona durften wir Personen zusätzlich engagieren, die keine ausgebildeten Lehrer waren, sondern verschiedenste, nicht nur pädagogische Erfahrungen hatten. Die haben keinen eigenständigen Unterricht gemacht, aber die Lehrer als Zweitkräfte unterstützt. Auch die Alltagshelfer wären ein hilfreiches Instrument für uns, die Lehrer bei Arbeiten entlasten könnten, für die Lehrer überqualifiziert sind. Aber Alltagshelfer gibt es ja zunächst nur für Grundschulen. Leider.
Immer wieder ist auch in den Medien die Rede von der „Bildungskatastrophe“. Wie klingt der Begriff in Ihren Ohren? Ist das übertrieben oder trifft die Beschreibung zu?
Achim Elvert: Ich habe heute Morgen die erste Dienstbesprechung mit den Kolleginnen und Kollegen gehabt. Tagesordnungspunkt 3 war die Zusammenfassung unseres Personalstandes. Nur Dreiviertel des Kollegiums stehen zur Verfügung, also können wir auch nur Dreiviertel des Unterrichts erteilen. Das kann ja nicht gut sein. Dann sitzen wir zusammen und überlegen, welchen Unterricht wir kürzen. Wir sind uns einig, dass wir nicht bei Deutsch, Mathematik, Englisch kürzen, weil da am Ende die zentralen Prüfungen sind. Also kürzt man Kunst und Musik, aber ist kulturelle Bildung nicht auch etwas wert? Also kürzt man Sport, aber die Kinder brauchen die Bewegung. Also kürzen wir in den Naturwissenschaften und wundern uns später, dass die Kinder sich nicht gesund ernähren, wenn sie kein Bio hatten. Für jedes Fach gibt es gute Gründe und am Ende muss trotzdem gekürzt werden. Bei uns sind es 200 Stunden pro Woche, die strukturell erst gar nicht stattfinden, da ist dann noch nicht mal die Rede von Stunden, die noch ausfallen werden, weil Kollegen krank ausfallen.
Jacksteit: Wir als GEW sprechen ja schon seit einiger Zeit von der Bildungskatastrophe. Und egal wie wir das jetzt nennen: Dass es keine Besserungsperspektiven gibt, ist eine Katastrophe. Wir sind an einer ganz fundamentalen Stelle, an der wir ein Bekenntnis abgeben müssen. Wir brauchen halb so große Klassen, entsprechend mehr Räume und Personal. Und da droht ein weiteres Dilemma: Die Schüler erleben, welchen Situationen ihre Lehrer ausgesetzt sind, wie sehr diese damit alleingelassen werden – und entscheiden sich deshalb gegen den Beruf. Mit der Folge, dass wir weniger Lehrer zur Verfügung haben.
Was, wenn es so weiter geht?
Lothar Jacksteit: Dann werden wir erleben, dass wir immer mehr junge Menschen haben, die nicht über die erforderlichen Kompetenzen verfügen, Berufe zu ergreifen, die auch dauerhaft unsere Systeme entlasten, aber auch zu einer Selbstbestätigung führen. Und da, wo das Selbstbewertgefühl fehlt, da fehlt auch die Akzeptanz für das bestehende System. Und wenn die Akzeptanz für das bestehende System fehlt, kommt es zur Polarisierung der Gesellschaft. Und dann kann es auch politisch zu deutlich extremeren Entwicklungen kommen, die wir uns nicht wünschen. Dafür muss man nur beispielsweise nach Frankreich schauen.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie bei NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller auf offene Ohren stoßen?
Achim Elvert: Ich glaube schon, dass sie großes Verständnis für die Situation hat. Die Frage ist halt, welchen Bewegungsspielraum hat sie? Da kommen da so Dinge wie Koalitionsvertrag, Finanzminister, Tarifrecht und mehr ins Spiel. Und die andere Frage ist eben auch, wie man es politisch durchsetzen möchte, dass man umverteilt. Wenn man nicht genug Ressourcen hat und einem dann etwas wegnimmt, um es einem anderen zu geben, der es vielleicht nötiger braucht, dann tut das natürlich auch weh.