Düsseldorf. Viele Lehrkräfte sind in NRW überlastet. Das Schulministerium will durch weniger Klassenarbeiten helfen. Von Eltern und Schülern gibt es Kritik.
Buchstaben entziffern, Gedankengänge nachvollziehen, Fehler erkennen, Randbemerkungen schreiben und dem Ganzen am Ende eine Note geben. Für jede Klausur, die Hauptschullehrer Martin Heuerkorrigiert, braucht er etwa eine Stunde. „Bei 30 Schülern in einer Klasse gehen da schonmal Wochenenden oder mehrere Ferientage für drauf“, sagt der Mathematiker aus Dortmund.
Für Pädagogen wie ihn hat sich das NRW-Schulministerium etwas ausgedacht: Zum Auftakt des neuen Schuljahres hatte Schulministerin Dorothee Feller (CDU) den Schulen die Entscheidung überlassen, in den Jahrgangsstufen 7 und 8 eine Klassenarbeit pro Hauptfach – Mathematik, Deutsch und Englisch – weniger zu schreiben. Die Idee: Lehrkräfte würden bei den Korrekturen entlastet. Die Änderung sorgte aber vielerorts zunächst für Verwirrung. Besonders von Schülerinnen, Schülern und Eltern gibt es Kritik.
Klassenarbeit in NRW: Wer darf über die Anzahl entscheiden?
Laut dem Verband Bildung und Erziehung NRW (VBE) gab es nicht nur Unklarheiten darüber, auf welcher Rechtsgrundlage die Prüfungsanpassung stehe, sondern auch die Frage, wer über die Anzahl der Klassenarbeiten entscheiden darf. Das Schulministerium verweist auf Paragraph 70 Abs. 4 des Schulgesetzes: Demnach entscheiden die Fachkonferenzen, also Lehrer, die die entsprechenden Fächer unterrichten. Für Schulen in NRW sei das nichts Neues, heißt es aus dem Ministerium. Denn: Spielräume habe es auch schon davor in den Jahrgangsstufen 9 und 10 gegeben.
Eltern fürchten mehr Druck für Schülerinnen und Schüler
Sollten Klassenarbeiten in der 7. und 8. Klasse gestrichen werden, fürchten viele Eltern, Schülerinnen und Schüler, dass der ohnehin schon hohe Leistungsdruck nochmal steigen könnte. In einer Prüfung müssten entsprechend mehr Themen bearbeitet werden, heißt es etwa aus der Landeselternschaft der Realschulen in NRW. Außerdem sei es dann schwieriger, schlechte Noten auszugleichen. „Einen Ausrutscher nach unten kann man sich nicht mehr erlauben“, sagt Vorsitzender Ismail Sönmez.
Die Regierung hält diese Sorgen für unberechtigt. „Neben den schriftlichen Arbeiten werden weiterhin auch die sonstigen Leistungen im Unterricht angemessen berücksichtigt“, schreibt das Schulministerium. Lehrer Martin Heuer stimmt dem zu: „Es gibt viele Möglichkeiten einen Lehrer von seinen Leistungen zu überzeugen.“ So zum Beispiel Referate, Extraarbeiten oder die mündliche Mitarbeit. Dafür sei das Schuljahr lang genug.
Schülerinnen und Schüler zweifeln am gesamten System
Schülerinnen und Schüler stellen wiederum das gesamte Konzept von Klassenarbeiten und Klausuren infrage. Ob eine Prüfung mehr oder weniger geschrieben wird, sei am Ende weniger relevant als die Frage, ob man individuelle Fähigkeiten überhaupt anhand von Noten messen sollte. „Wir plädieren für Prüfungsmodelle, die auf individuellen Stärken basieren und nicht alle Schülerinnen und Schüler in eine Form pressen“, sagt Thaddäus Hildemann von der Landesschüler*innenvertretung aus NRW, der die 13. Klasse einer Gesamtschule in Mönchengladbach besucht.
„Schule ist viel mehr als das Lernen für die nächste Klassenarbeit, und Bewertung hat mehr als sechs Kategorien – gerade in den Klassen 7 und 8“, sagt auch VBE-Vorsitzender Stefan Behlau. Für individuelle Leistungsrückmeldungen sei mit Blick auf den Lehrkräftemangel zurzeit jedoch erst recht keine Zeit.
Lehrkräftemangel muss effektiver bekämpft werden
Aber ist der Wegfall einer Prüfung für Lehrer eine große Entlastung? „Eine Hilfe ist es allenfalls“, sagt Hauptschullehrer Heuer. Er sieht für sich zum Beispiel mehr Erholungszeit an freien Tagen, um neue Energie für den Arbeitsalltag zu tanken. Auch der Philologenverband NRW (PhV) begrüßt den neuen Spielraum. „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt die Vorsitzende Sabine Mistler. Die Beurteilungsmöglichkeiten und Qualitätsstandards dürften darunter jedoch nicht leiden.
Eltern, Schülerinnen und Schüler bezweifeln den großen Entlastungseffekt. Dafür käme es dann anderweitig zu mehr Aufwand für Lehrkräfte, um die fehlende Klassenarbeit wieder auszugleichen, sagt Sönmez. Für Referate gingen auch zusätzliche Unterrichtsstunden drauf. „Wir erkennen die Belastung von Lehrkräften an, aber der Verzicht von Prüfungen ist nicht die Lösung“, sagt Schüler Hildemann. Viel eher müsse man sich auf die Bekämpfung des Lehrkräftemangels konzentrieren und den Beruf wieder attraktiver machen. Zum Beispiel, indem die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten, nicht beschränkt wird.
Der PhV schlägt vor, Lehrkräfte künftig zu entlasten, indem die zentralen Abschlussprüfungen am Ende der zehnten Klasse an Gymnasien in NRW abgeschafft werden. Die sogenannte ZP 10, die mit Einführung des G8-Modells für Gymnasien in NRW gestrichen wurde, muss ab 2024 wieder absolviert werden. Laut dem Verband fehle dafür die Relevanz, da nur die wenigsten Schülerinnen und Schüler nach der zehnten Klasse das Gymnasium verließen.