Simmerath. Olaf Scholz und ein möglicher Kanzlerkandidat bestaunen gemeinsam die Energiewende “Made in Eifel“. Eine Frage hängt über dem Treffen.

Am Ende macht sich Hendrik Wüst fast einer Amtsanmaßung schuldig. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident steht am Dienstagmittag in einem Waldstück in Simmerath, irgendwo zwischen Aachen und der belgischen Grenze. An einem Stehtisch, der neben einem Stapel Rundholz aufgebaut ist, wartet das Goldene Buch der Eifel-Gemeinde auf prominente Unterschriften. Zunächst ist Olaf Scholz an der Reihe, der sein Autogramm zackig unter den Kanzler-Vordruck setzt. Als Wüst den Füller übernehmen soll, bemerkt er gedankenschnell: „Nächste Seite!“ Eilig wird umgeblättert. Kanzler ist er ja bislang nur in den Träumen mancher Unionspolitiker, die mit Parteichef Friedrich Merz und der mauen Umfragelage hadern.

Wüst und Scholz sind an diesem Vormittag nach Simmerath gekommen, um in all dem Wehklagen über den Abstieg der deutschen Wirtschaft und die Selbstblockade in der Energiewende den dortigen „Bürger-Windpark“ als Blaupause für die dringend notwendige Transformation zu feiern. Sogar ihre Differenzen über den „Industriestrompreis“ lassen sie ausnahmsweise unerwähnt. Hier in der Eifel sind über Jahre 22 Windräder von bis zu 200 Meter Höhe mitten in den Wald gesetzt worden. Ohne Proteste. Sie haben Simmerath reich gemacht.

Windräder haben die Gemeinde Simmerath reich gemacht

Bürgermeister Bernd Goffart (CDU) rechnet vor, wie er mit den Energieeinnahmen die Steuern senken, Ganztagsplätze schaffen und die Sportvereine unterstützen konnte. 125 Euro pro Kopf an Steuerkraft brächten die Windräder in der 15.000 Einwohner-Gemeinde. Das hat die Menschen überzeugt. Goffarts Problem ist eher, dass die Genehmigung weiterer Windräder so kompliziert ist.

„Man hat den Eindruck, hier ist es so, wie es überall sein sollte. Alle haben was davon, die Akzeptanz ist hoch“, lobt Wüst. Der Termin gibt ihm die Möglichkeit, NRW als „Tempomacher beim Deutschland-Tempo in puncto Ausbau der Erneuerbaren“ ins Schaufenster zu stellen. Dass seine NRW-CDU lange die Windkraft im Wald bekämpft hat, die Gemeinden wie Simmerath erstmals 2010 von Rot-Grün ermöglicht wurde? Längst vergessen.

Scholz verströmt mal wieder in NRW "Wir sind auf Kurs"-Atmosphäre

Man sei „on Track“, sagt Wüst selbstbewusst. „Nordrhein-Westfalen geht da mutig voran.“ Es gebe inzwischen, „eine Kultur zu entscheiden und sich nicht noch hundertmal abzusichern“. Der Termin ist an diesem Vormittag erkennbar ein Zweckbündnis für 90 Minuten. Wüst, den Scholz anfänglich mal „Amateur im Ministerpräsidenten-Kostüm“ genannt haben soll, bekommt ein wenig bundespolitischen Abglanz. Der Kanzler wiederum kann in NRW vorführen, dass in Deutschland doch noch irgendwo „ansteckender Optimismus“ seinen Ort hat, wie er erfreut feststellt.

Der Kanzler lässt den möglichen nächsten Kanzlerkandidaten der Union zunächst zehn Minuten warten. Wüst ist am Morgen etwas zu früh an einem Waldweg aus seiner schwarzen Dienstlimousine gestiegen und wirkt neben einem nervösen Pulk aus gut 40 Journalisten wenig verloren. Er trägt ein blaues Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und jene grauen Wanderschuhe, die er neulich schon bei der Sauerland-Tour mit dem hessischen Amtskollegen Boris Rhein anhatte. Vor Wüst liegen heute zwar nur wenige hundert Meter befestigte Wegstrecke zu verschiedenen „Fotosituationen“ mit Windrad-Kulisse, wie es im Protokoll-Deutsch heißt. Aber man weiß ja nie.

Als Scholz da ist, verströmt er gleich diese „Wir sind auf Kurs“-Atmosphäre, die bereits bei seinem letzten NRW-Besuch vergangene Woche unter rezessionsgeplagten Unternehmern Erstaunen ausgelöst hatte. „Was wichtig ist, wenn man das hier sieht: dass Konflikte lösbar sind“, sagt er. Deutschland benötige vier bis fünf Windkraftanlagen am Tag. Heute verbrauche man 650 Terawattstunden Strom, schon 2030 werden es bis zu 800 Terawattstunden sein – zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien. „Das geht auch, wenn wir das hinbekommen und Tempo entwickeln“, findet Scholz.

Der Kanzler appelliert: "Bitte alle Mut haben"

Der Geschäftsführer der Aachener Stadtwerke Stawag, Frank Brösse, fordert dringend eine „Reduzierung der Komplexität und nicht immer neue Themen on top“ in den Planungsverfahren. Für den Kanzler alles eine Frage des guten Willens: „Einer muss die Unterschrift unter die Genehmigung setzen. Da wird man immer alleine bleiben.“ Nicht alles solle man durch unzählige Gutachten erhärten, rät er: „Bitte alle Mut haben.“

Als Scholz auf einer Holzbank von seinen Erfolgen in der Planungsbeschleunigung schwärmt, sitzt Wüst mit verschränkten Armen daneben und macht ein Gesicht, als ginge er gedanklich die letzte Zahnwurzelbehandlung durch. „Wir dürfen nicht nachlassen“, sagt Scholz mit diesem dynamischen kurzen „a“ in „nachlassen“. Demnächst müssten in den Verwaltungen sogar Elektrolyseure „das erste Mal genehmigt werden von jemandem, der das noch nie gemacht hat und hoffentlich nicht 200 Gutachten dazu braucht“.

Die K-Frage wird ganz zum Schluss doch noch gestellt

Bevor der Kanzler davonrauscht, richtet endlich einer die Frage an ihn, die schon die ganze Zeit über den Baumwipfeln hängt: „Haben Sie heute hier in Simmerath Ihrer Meinung nach mit Herrn Wüst Ihren Herausforderer getroffen bei der nächsten Bundestagswahl?“ Scholz grinst „schlumpfig“, wie Markus Söder es formulieren würde. „Ich bin alles Mögliche, aber nicht CDU-Pressesprecher“, sagt der Kanzler, „insofern müssen Sie den, glaube ich, in Berlin aufsuchen, um da ne Auskunft zu kriegen.“