Keyenberg/Kuckum. Fünf Orte im Rheinischen Braunkohle-Revier bleiben erhalten. Sie sind aber nahezu Geisterdörfer. Wie um die Wiederbelebung gekämpft wird.

An der Borschemicherstraße, durch die im Januar Zehntausende zogen und lautstark gegen die Kohle demonstrierten, vergehen die Symbole des Widerstands. Auf den heruntergelassenen Rollläden des Gasthofs sind die drei Xe übermalt worden. Die Parolen auf den Stromkästen verblassen. Die Aufkleber blättern ab. Es ist still. Die große Schlacht im Rheinischen Braunkohlerevier ist geschlagen. Jetzt beginnt das Ringen um die Zukunft der Dörfer, die nicht der gewaltigen Grube versinken werden, die nur wenige hundert Meter entfernt von Keyenberg aufklafft. Es ist der Kampf derjenigen, deren Heimat die Siedlungen sind, die Geisterdörfern ähneln.

Keyenberg. Kuckum. Beverath. Oberwestrich. Unterwestrich. Kleine Dörfer, an denen die Geschichte jahrhundertelang vorbeistrich, ohne sie wirklich zu berühren. In den vergangenen drei, vier Jahren rückten die Stadtteile der Stadt Erkelenz ins nationale Bewusstsein, sie fanden Erwähnung im Berliner Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Sie standen für den Kampf David gegen Goliath. Goliath, das ist der Energiekonzern RWE, dessen riesige Schaufelradbagger von Keyenberg zu sehen sind, wenn sie auf der obersten Sohle stehen. RWE wollte die Dörfer für die Kohle abreißen. David, das waren die Menschen, die sich dagegen wehrten, ihre Häuser und ihre Erinnerungen an die Kohle zu verlieren. David hat gewonnen. Die Dörfer bleiben.

Selbst die Toten haben die Dörfer verlassen

„Wir sind standhaft geblieben“, sagt Sebastian Schröder, 35. Er schiebt einen Kinderwagen über den Bürgersteig an der Borschemicherstraße. Schröder ist vor acht Jahren nach Keyenberg gezogen, der Liebe wegen. Seine Freundin hat einen Pferdehof, sie züchten Ziegen und Truthühner. „Meine Freundin war im Widerstand.“ Der Widerstand. Das waren diejenigen, die sich weigerten ihre Häuser, ihre Höfe, ihr Land an RWE zu verkaufen. Maja, das Baby im Kinderwagen, ist vor wenigen Wochen geboren worden. „Wir wollen, dass sie hier aufwächst“, sagt Schröder. Die Frage ist nur, wie das Leben ins Dorf zurückkehren soll.

Keyenberg ist das größte der geretteten Dörfer. Hier lebten einmal rund 900 Menschen. Jetzt ist noch etwa ein Zehntel der früheren Einwohner geblieben. Der Rest hat an RWE verkauft in dem Glauben, das Dorf werde Ende dieses Jahres abgerissen. Gewundene Straßen führen entlang von Häusern mit staubblinden Fensterscheiben. Viele Türen sind mit Scharnieren verschlossen, das sind die Häuser, in die eingebrochen wurde, nachdem die früheren Bewohner sie verlassen haben. In den Gärten wuchert die Natur. Die Metzgerei ist dicht, die beiden Lebensmittelgeschäfte, der Keyenberger Hof. Auf dem Friedhof stehen nur noch wenige Grabsteine bei den großen alten Blutbuchen. Selbst die Toten haben das Dorf verlassen. Die meisten sind umgebettet worden.

Im Januar 2020 scheint es, als sei das Schicksal Keyenbergs und der anderen Dörfer besiegelt. Bund, Länder und Energiekonzerne verständigen sich auf den Kohleausstieg im Jahr 2038. Die Dörfer sollen noch abgebaggert werden. Es ist der Punkt, an dem viele zerbrechen, die zuvor noch Hoffnung hatten und sich weigerten, ihr Eigentum an RWE zu verkaufen. 85 Prozent der Häuser in den Dörfern gehören mittlerweile dem Energiekonzern. Die meisten derjenigen, die verkaufen, ziehen um in die neuen Umsiedlungsdörfer nördlich von Erkelenz. Zwei Jahre später beschließt die Ampelkoalition: die Dörfer bleiben erhalten. Nur der Flecken Lützerath soll noch der Braunkohle geopfert werden.

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In der Bäckerei Laumanns neben der über tausend Jahre alten Heilig-Kreuz-Kirche hängt der säuerliche Geruch von Hefe in der Luft. Wolfgang Laumanns, 59, steht in der Backstube, die Klamotten mehlbedeckt. Sein Großvater hat die Bäckerei vor fast einhundert Jahren gekauft. Die Stütchen, die sie hier backen, sind über Keyenberg hinaus bekannt. Laumanns ist in Keyenberg geblieben, die Umsiedelung hätte er sich nicht leisten können, was er von RWE bekommen hätte, wäre nicht ausreichend für den Aufbau eines neuen Betriebes gewesen.

Also machen er und sein Neffe irgendwie weiter. „80 Prozent unseres Umsatzes machen wir mit unserem Verkaufswagen, mit dem wir durch die Dörfer fahren“, erzählt Laumanns. Manchmal ist ihr Laden noch geöffnet. Aber die Laufkundschaft ist rar. Der Bäcker ist skeptisch, was die Zukunft angeht. Er weiß von einem Ehepaar, dass das alte Elternhaus zurückkaufen will. „Aber meisten werden wohl nicht zurückkommen.“ Die Substanz der Häuser in Keyenberg verfällt mit jedem Tag, an dem sie leer stehen. Die Instandsetzung wird teuer werden.

Aktivisten sagen: Viele junge Menschen wollen in die Dörfer ziehen

Menschen wie Marita Dresen, Waltraud Kieferndorf und Norbert Winzen drängen deswegen auf den raschen Verkauf der leeren Häuser in den Dörfern. Sie haben sich mit anderen zur Dörfergemeinschaft KulturEnergie zusammengeschlossen. Vor dem Haus von Marita Dresen in Kuckum steht noch das gelbe X des Widerstands. Der alte Bauernhof stammt aus dem 17. Jahrhundert, die Familie hat hier immer gelebt. Jedes Wochenende, erzählen sie, kommen Menschen von außerhalb in die Dörfer.

„Viele junge Menschen wollen hier ein Haus kaufen“, sagt Dresen. Winzen träumt von „urbanem Leben in dörflichen Strukturen“. Kieferndorf davon, dass in den Dörfern ein „soziales Leuchtturmprojekt“ entsteht, etwa ein Betreuungsprojekt für Demenzerkrankte, und dass die Kohledörfer dafür bekannt werden, sich autark mit Energie zu versorgen.

RWE und die Stadt hielten sich aber zurück, kritisieren die drei. Sie haben den Verdacht, dass die Häuser endgültig verfallen sollen, um Neuem Platz zu machen. Sie misstrauen der Politik und dem Konzern, beklagen, nicht vernünftig in die Planungen für die Zukunft eingebunden zu werden. Die Klimaaktivisten, die in den vergangenen Jahren hier waren, haben sie als Bereicherung empfunden. „Der Kampf hat zusammengeschweißt“, sagt Kieferndorf.

Der Widerstand ist aber längst nicht mehr geschlossen. Andere haben ihren Frieden mit RWE und der Politik gemacht. Barbara Oberherr, 62, aus Keyenberg ist die Sprecherin der Dörfergemeinschaft Zukunftsdörfer. Sie lebt in einem alten Haus an der Borschemicherstraße aus dem 14. Jahrhundert, ihr Großvater hat es gekauft. Hinter dem Haus stehen auf einem großen Grundstück alte Walnussbäume. Ein X steht nicht mehr vor dem Haus.

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„Die Bevölkerung ist gespalten“, sagt sie. Viele hätten die „Nase voll von den aktivistischen Gruppen, sie wollen ihre Ruhe“. Das Beste sei es nun, sagt Oberherr, mit der Politik zusammenzuarbeiten. „Man sollte die nicht in den Schmutz ziehen.“ Die Stadt und der Konzern seien zu Gesprächen bereit. Auch sie glaubt daran, dass aus den alten Dörfern „energetische Vorzeigedörfer“ werden können, ihr Dach ist mit einer Solaranlage gedeckt. RWE wird nach sechs Jahre dem Ende des Tagebaus im Jahr 2030 die Grube fluten. Dann könnte Keyenberg ein Leben in Seerandlage bieten. Oberherr wird das höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Es wird mindestens vierzig Jahre dauern, bis die Grube voll ist.

Auch in den Umsiedlungsdörfern muss neues Leben wachsen

Und die Menschen, die ihr Eigentum verkauft haben? Helmut Kehrmann, 69, steht gegenüber dem Begegnungszentrum St. Petrus, einem schlichten Funktionsbau, der an eine Kirche anmuten soll, an der Grenze zwischen Neu-Westrich und Neu-Keyenberg. Die Häuser hier haben keine großen Gärten. Hühner, Gänse oder Ziegen dürfen nicht gehalten werden. Einen Bäcker oder einen Metzger oder eine Kneipe oder einen Lebensmittelladen gibt es nicht. Die Wortgottesdienste in St. Petrus fallen im August alle aus.

Kehrmann lebt mit seiner Frau jetzt seit zwei Jahren im Umsiedlungsdorf, sie weint manchmal, wenn sie an die alte Heimat denkt. Sie mussten weg, weil die Kirche das Grundstück verkaufte, auf dem ihr Haus stand. In den Umsiedlungsdörfern entwickelt sich das Leben nur sehr langsam. Die Schützenvereine, der Karneval, die Feuerwehr sind jetzt hier. „Aber um ein Dorfleben hinzubekommen, müssen alle bereit sein sich zu engagieren“, sagt Kehrmann. Er ist oft mit seiner Frau in Keyenberg, so wie viele der früheren Bewohner. Als bekannt wurde, dass die Dörfer gerettet sind, habe es einen Aufschrei gegeben, erinnert sich Kehrmann. „Viele haben gesagt, sie hätten nicht verkauft, wenn sie das gewusst hätten.“

In einer Stellungnahme bei einer Bürgerbefragung der Stadt Erkelenz zur Zukunft der Dörfer schreibt einer: „Ich will, dass mein Haus abgerissen wird! Beendet endlich den Psychoterror! Die Umsiedlung hat mich krank gemacht und macht mich weiterhin krank“.

Kehrmann überlegt, ein Grundstück in Keyenberg zu kaufen. „Für meine Kinder. Ich bleibe hier, ich bin zu alt.“