Düsseldorf. Beistand bis zum Burnout: Viele Menschen haben Ukrainern sofort geholfen, als der Krieg ausbrach. Einer von ihnen ist Boris Aleksandrov.
Mehr als 220.000 Ukrainer sind 2022 nach NRW geflüchtet – etwa die Hälfte gleich nach Kriegsausbruch. Als Boris Aleksandrov diese Nachrichten ereilen, spürt er, dass er helfen muss. Der gebürtige Russe ist selbst erst vor ein paar Jahren von Moskau nach Deutschland gezogen – aus Angst. Dass er mal jede Minute seiner Freizeit aufopfern würde, um Geflüchtete fast bis zum Rande des Burnouts zu unterstützen, hätte er vor zehn Jahren nicht für möglich gehalten. „Meine Familie bezeichnet mich deshalb als Verräter“, sagt er in fließendem Deutsch mit russischem Akzent.
Wir treffen den 35-Jährigen bei ihm zu Hause. Er hat einen langen Arbeitstag als Technikleiter im Essener GOP Varieté-Theater hinter sich. In Russland hatte er sein Diplom in Informatik und IT gemacht, führte danach einen eigenen Laden für Schallplatten und Musikevents.
Aber seitdem er in Essen wohnt, ist sein Leben ein anderes. Am Kühlschrank kleben Fotos von seinen beiden kleinen Töchtern. Seine Ehefrau bringt sie gerade ins Bett. Die Familie lebt in drei Zimmern, Küche, Bad. Bis vor Kurzem haben sie sich diese Räume noch mit vier ukrainischen Flüchtlingen geteilt. Noch am Tag des Kriegsausbruchs hatte Aleksandrov seine Wohnung als Unterkunft angeboten.
Acht Menschen leben ein halbes Jahr lang zusammen in einer Drei-Zimmer-Wohnung
Ein paar Tage empfängt die Familie zwei Mütter mit einer fünf- und einer zehnjährigen Tochter. Ob das nicht seltsam war? Die Ukrainerinnen fliehen vor russischen Soldaten und landen dann ausgerechnet bei einem Russen? Aleksandrov lacht, schüttelt den Kopf: „Nein, sie haben schnell gemerkt, dass ich politisch anders denke.“
Familie Aleksandrov unterstützt die Geflüchteten, wo sie nur kann. Boris Aleksandrov begleitet die beiden Frauen zum Ausländeramt, zum Jobcenter, hilft ihnen, Anträge auszufüllen und bringt sie zu wohltätigen Vereinen, damit sie sich mit dem Nötigsten eindecken können. Aus Fremden werden Freunde. Nach einem halben Jahr ziehen die Ukrainerinnen in eine eigene Wohnung und verabschieden sich von ihren Gastgebern mit einer dicken Umarmung und einem großen Lächeln.
Boris Aleksandrov übersetzt fast jeden Dienstag im Viel Respekt Zentrum in Essen
Doch Boris Aleksandrov setzt sich nicht nur für die beiden Mütter und ihre Kinder ein. Als eine Bekannte ihn kurz nach Kriegsausbruch fragt, ob er im Essener „Viel Respekt Zentrum“ übersetzen kann, sagt er ohne zu überlegen ‘Ja’. Seit März vergangenen Jahres bietet diese Kultur- und Begegnungsstätte Info-Abende für geflüchtete Ukrainer an. Aleksandrov selbst spricht zwar kein Ukrainisch. „Aber viele Ukrainer verstehen russisch“, erklärt er.
Am Anfang geht es um Themen wie: Welche Anträge muss ich stellen? Wo finde ich einen Arzt? Wie kann ich Bürgergeld beantragen? Zu den Veranstaltungen kommen bis zu 160 Menschen, erzählt Betriebsleiterin Vicky Röhrig. Mittlerweile geht es nicht mehr ums Ankommen, sondern ums Einleben: Wo finde ich einen Job? Wie schule ich mein Kind ein? Wie kann ich noch besser Deutsch lernen?
Familie Aleksandrov war selbst aus Moskau geflohen aus Angst vor einem Krieg
Seine Hilfsbereitschaft tut Boris Aleksandrov gern ab. „Dass ich helfe, stand für mich außer Frage“, antwortet er nur, wenn man ihn fragt, wieso er all das getan hat und immer noch tut. Er wisse aus eigener Erfahrung, wie schwierig es sei, sich in einem fremden Land einzuleben. Der Russe war 2016 nach Deutschland gezogen, weil er seine Familie schützen wollte.
„Als Russland die Krim annektierte, wusste ich, dass das nicht lange gut gehen kann. Wir hatten uns ein Leben in Moskau aufgebaut. Ich wollte nicht fliehen. Aber ich hatte keine Wahl.“ Seit Kriegsausbruch verspüre er ein Gefühl von Verantwortung. „Ich kann nichts für Putin oder für meine Verwandten in Russland, die ihn unterstützen. Aber ich möchte Verantwortung übernehmen für die Menschen, denen der Krieg ihre Heimat nimmt.“
Erklärvideos von Aleksandrov erreichen im Internet etwa 120.000 Menschen
Um noch mehr Geflüchtete mit Informationen zu versorgen, beginnt Aleksandrov die Info-Abende zu filmen und die Videos auf seinen Youtube-Kanal zu stellen. Kurz darauf wird „Digitalista“ auf ihn aufmerksam. Der Verein mit Sitz in Berlin hatte sich kurz nach Kriegsausbruch gegründet und vernetzt freiwillige Helfer mit geflüchteten Ukrainern. Auf dem YouTube- und TikTok Kanal des Vereins, der sich „uahelp“ nennt, erreichen die Erklärvideos von Aleksandrov mehr als 120.000 Menschen.
Auf der Vereinswebseite gibt es Chatbots für Fragen. Wenn sie nicht weiterhelfen, können Geflüchtete persönlich mit Ehrenamtlichen sprechen. Vor und nach seiner Arbeit telefoniert Aleksandrov deshalb häufig mit Ukrainern. „Manche haben Fragen zur Bürokratie. Einer rief mich aber auch mal vom Arzt aus an, und ich musste übersetzen, dass er Krebs hat“, erzählt er.
Nach einem Jahr voller Hilfe mehr Boris Aleksandrov, dass er kürzer treten muss
Eineinhalb Jahre nach Kriegsausbruch hilft Aleksandrov noch sehr viel - nur nicht mehr jede freie Minute. „Viele Freiwillige haben einenBurnout, und ich habe leider auch bei mir gemerkt, dass ich kürzertreten muss.“ Wenn er ab und an noch ins „Viel Respekt Zentrum“ kommt, umarmen ihn die Menschen.
Einer von ihnen ist Dmytro aus Charkiw. Auch ihm hatte Aleksandrov dabei geholfen, eine Wohnung zu finden und seine Tochter einzuschulen. Der 31-Jährige sagt glücklich auf Englisch: „Hätte ich Boris nicht kennengelernt, wüsste ich nicht, wie es mir heute gehen würde. Ich habe einen wahren Freund in ihm gefunden. Und manchmal wünschte ich, man könnte ihn noch tausend Mal duplizieren. Er ist ein einzigartiger Mensch.“