Hamburg. Die Bildungserfolge in der Hansestadt locken Neugierige aus NRW an, zum Beispiel den neuen SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott.

Grundschüler in Hamburg konnten vor zehn Jahren ähnlich schlecht lesen, schreiben und rechnen wie Grundschüler in NRW. Inzwischen gehört die Hansestadt im „IQB-Bildungstrend“, der die Leistung von Viertklässlern vergleicht, zu den Besten. Kein anderes Land hat sich in zehn Jahren in diesem Vergleich so stark verbessert. Wie machen die das? Der neue SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott fand die Antwort in Hamburg-Dulsberg.

Mehr Vielfalt als an dieser Schule ist unmöglich

Die Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg will ein „guter Ort“ sein und liegt doch mitten in einem der ärmsten Viertel Hamburgs. Dulsberg ist sozialer Brennpunkt, und die Schule bildet diese bunte, mitunter explosive Mischung ab. „Mehr Vielfalt geht nicht“, sagt Lehrerin Sabine Wesemüller. Rund 1700 Schülerinnen und Schüler aus 83 Nationen lernen hier – Benachteiligte und Begabte, junge Spitzensportler und Jugendliche mit Behinderung, Fünfjährige und Zwanzigjährige, Kinder, die schon vor der Einschulung lesen konnten und solche, deren Eltern an Sprechtagen Dolmetscher benötigen. Eine Stadtteilschule („Gesamtschule“) dieser Größe und in dieser Lage ist eine pädagogische Herausforderung.

Interessante Kombination aus langer Leine und harter Kontrolle

„Der Ton ist oft harsch. Man muss diese Kinder mögen, sonst geht es nicht“, meint Sabine Wesemüller. Während das Lehrkräfte-Mangelland NRW Pädagogen in Brennpunktschulen „abordnet“, arbeiten hier nur Lehrer, die es wirklich wollen. Hamburgs Schulen genießen große Freiheiten bei der Auswahl ihrer Lehrerinnen und Lehrer, beim Unterricht, bei der Arbeitszeit. Dafür schickt die Stadt oft Kontrolleure vorbei, die prüfen, ob diese Freiheit Früchte hervorbringt.

Am Alten Teichweg bröselt im Gegensatz zu vielen NRW-Schulen nichts. Die Flure sind sauber, die Toiletten funktionieren, die Schule steht dem Stadtteil sogar als Veranstaltungszentrum zu Verfügung. Sie kann sich das leisten, weil sie gut aufgestellt ist. „Je mehr sozialer Brennpunkt, desto mehr Geld gibt die Stadt“, erklärt Lehrerin Silke Aschermann. Während NRW gerade erst begonnen hat, Brennpunktschulen besser auszustatten, ist das in Hamburg längst normal. Und die Familien müssen für Schulbücher und andere „Lehrmittel“ keinen Cent bezahlen. In manchen Fällen reicht selbst das nicht. „Es gibt Kinder, die kommen nur mit einem Kuli, die können sich kein Heft leisten. Dann gebe ich ihnen eins“, sagt Aschermann.

Schon mit viereinhalb Jahren wird der Entwicklungsstand der Kinder überprüft

Besonders stolz sind sie in Hamburg auf die „Vorschule“: Jedes Kind wird mit viereinhalb Jahren in einer Kita oder in einer Schule auf seine Reife getestet. Kann es nicht altersgemäß sprechen, muss es ein Jahr lang eine Vorschule besuchen, andere Mädchen und Jungs tun dies freiwillig. NRW-Schulkinder haben keine Chance zum Aufholen noch vor der ersten Klasse. Schulsenator Ties Rabe (SPD), Dienstältester im Kreis der deutschen Schulminister, versicherte seinen Gästen aus NRW, dass Hamburg die frühe Überprüfung aller Kinder sehr ernst nehme. Sollten sich Eltern wiederholt weigern, schritten Jugendamt und Polizei ein.

Die Delegation, die aus NRW nach Norden gepilgert ist, um das Hamburger Schulwunder zu sehen, war beeindruckt, ist sich aber nicht einig, ob sich ein städtisches Schulsystem wie das in Hamburg auf ein großes Land wie NRW übertragen lässt. Jochen Ott, weitere SPD-Politiker, die Landeschefs der Bildungsgewerkschaften GEW und VBE sowie Elternvertreter wissen, wie schnell die Emotionen hochkochen, wenn es zum Beispiel um die Abschaffung von Haupt- und Realschulen geht.

Die SPD-Opposition will mit Schulpolitik punkten

Ott trommelt nach der Visite in Hamburg noch lauter als bisher für ein „Chancenjahr“ in NRW vor der Einschulung, also für eine Vorschule. Seine Fraktion sei auch „wild entschlossen“, das Schulsystem in NRW auf den Prüfstand zu stellen. Mit dieser Reise versucht Oppositionsführer Ott, der selbst Lehrer ist, den Druck auf NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) zu erhöhen. Auch Feller will die Leistungen der Grundschüler verbessern, führt in NRW zum Beispiel mehr „Lesezeit“ ein, warnt aber vor Schnellschüssen und großen Erwartungen: In Hamburg seien bis zu den ersten Erfolgen viele Jahre vergangen.

Ömer Aydin aus der Jahrgangsstufe11 schildert Dulsberg als eine Art „Bronx“ mit Dealern und anderen zwielichtigen Gestalten. „Der Stadtteil hat einen Namen, verstehst du?“, fragt der 18-Jährige. Auf seine Schule lässt er aber nichts kommen. „Die Lehrer kümmern sich, echt.“ Fachabi oder Abi sind für ihn in Sichtweite. Wie Schule in NRW ist, weiß Ömer nicht. „Ich bin froh, dass ich in Hamburg Schüler bin.“

Das Wichtigste über Schule in Hamburg:

Hamburg hat in 15 Jahren rund 100 Veränderungen am Schulsystem vorgenommen. Die wichtigsten:

Es gibt nur zwei Arten von weiterführenden Schulen: Gymnasien (acht Jahre bis zum Abi) und Stadtteilschulen (G9). Haupt- und Realschulen wurden abgeschafft. Alle Schulen in sind Ganztagsschulen, viele bieten Unterricht bis in den Nachmittag hinein an.

Für die Inklusion von Kindern mit Behinderungen in den Unterricht wurden die Schulen mit viel zusätzlichem Personal ausgestattet.

Etwa alle zwei Jahre wird der Lernstand in allen Schulen überprüft.

Grundschulen in „benachteiligten Stadtteilen“ bekommen bis zu 50 Prozent mehr Personal als andere Grundschulen. In den Klassen sind höchstens 19 Schüler

Stadtteilschulen bekommen 30 Prozent mehr Personal als gleich große Gymnasien

Schwache Schüler bekommen kostenlos Nachhilfekurse.

Die Maßnahmen wirken: 2011 lagen die Leistungen der Hamburger Viertklässler im Vergleich aller 16 Bundesländer über alle Fächer hinweg durchschnittlich auf Platz 14, heute auf Platz 6. NRW hat einen Platz im unteren Drittel.