Düsseldorf. Viele Schulen verlangen kurz vor den Ferien ärztliche Atteste. Mediziner wollen aber keine Schulpflicht-Kontrolleure mehr sein.

Kinder- und Jugendärzte in NRW möchten die vielerorts vorgeschriebenen medizinischen Atteste für kurz vor oder nach den Schulferien fehlende Schülerinnen und Schüler nicht mehr ausstellen. „Wir können und wollen für dieses Attest-Chaos nicht mehr zu Verfügung stehen. Wir sind keine Kontrolleure“, sagte Dr. Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) Nordrhein, dieser Redaktion.

Kinderarzt-Praxen im Stress

Dieser Forderung schließen sich die Kindermediziner in Westfalen-Lippe an. In einer gemeinsamen Initiative betonen sie, dass die kinderärztliche Versorgung in weiten Teilen von NRW wegen Personalmangels schlecht sei. Oftmals sei es ihnen einmal möglich, alle Neugeborenen oder Zugezogenen in einem Kreis zu betreuen. Die knappen Ressourcen dürften nicht für nicht-ärztliche Tätigkeiten—gemeint ist das Ausstellen von Attesten für Schülerinnen und Schüler– „verschwendet“ werden. Die Mediziner schlagen vor, der Staat müsse eigene „Überwachungsmöglichkeiten“ schaffen, zum Beispiel in Gesundheits- und Ordnungsämtern.

Vielen "Ferienverlängerern" geht es ums Geld

Es geht um Probleme mit so genannten „Ferienverlängerern“. Das sind Eltern, die mit ihren schulpflichtigen Kindern verreisen, obwohl die Ferien noch nicht begonnen haben. Oder die ihren Urlaub um einige Tage verlängern, obwohl die Schule schon wieder begonnen hat. Die Versuchung, die Ferienzeiten zu missachten, ist groß, weil die Familien auf diese Weise Geld sparen können. Flüge und Unterkünfte sind außerhalb der Ferien oftmals billiger.

Viele Schulen verlangen grundsätzlich ein ärztliches Attest für die Tage vor und nach den Ferien. Eine solche pauschale Attestpflicht lehnen die Mediziner aber ab. Ein Attest sei nur individuell und bei begründetem Verdacht aufs Schwänzen gerechtfertigt. Die Rechtslage ist übrigens nicht eindeutig. Laut Schulgesetz reicht im Normalfall eine schriftliche Entschuldigung der Eltern. Eine generelle Attestpflicht gibt es demnach nicht.

Schulleitungen und Eltern haben kein Verständnis für Ferienverlängerer

Beim „begründetem Verdacht“ auf eine private Ferienverlängerung sei es absolut richtig, ein ärztliches Attest zu verlangen, meint der Chef der Schulleitungsvereinigung NRW, Harald Willert.

Die Landeselternkonferenz NRW (LEK) hat ebenfalls kein Verständnis für Eltern, die ihre Kinder vor den Ferien einige Tage früher aus der Schule nehmen wollen. „Ferien sind Ferien und die Termine sind lange vorher bekannt“, sagt Katrin Schäfer, Vize-Vorsitzende der LEK. Und sie merkt an: „Was würden denn Eltern schulpflichtiger Kinder sagen, wenn Lehrkräfte für sich und ihre Familien dasselbe Recht in Anspruch nehmen und früher in die Ferien gehen würden?“

Wer eigenmächtig die Ferien verlängert, muss mit Bußgeldern bis zu 1000 Euro rechnen. Im vergangenen Jahr wurde allein im Bereich der Bezirksregierung Düsseldorf rund 400 „Ferienverlängerer“ zur Kasse gebeten.

Warum halten sich manche Familien nicht an die Ferien?

Weil Flüge und Unterkünfte vor Ferienbeginn und nach Ferienende in der Regel billiger und die Staus kürzer sind. Einige sagen auch, dass die Kinder in den letzten Tagen vor Ferienbeginn gar nicht mehr richtig unterrichtet werden. Ein Klassenausflug ins Grüne gilt als unwichtig, die Familienreise geht vor.

Ist das ein großes Problem?

Im Jahr werden in NRW weit mehr als 1000 Verfahren wegen privater Ferienverlängerung eingeleitet, im Regierungsbezirk Düsseldorf waren es zuletzt 419. Wer das Risiko eingeht, muss mit einem Buß­geld bis zu 1.000 Euro rechnen. Die Eltern sollen möglichst mehr Bußgeld zahlen, als sie durch die Ferienverlängerung gespart haben.

Werden die Familien an Flughäfen kontrolliert?

Durchaus möglich. Ein Sprecher der Bundespolizei am Flughafen Köln/Bonn erklärt auf Nachfrage, dass Bundespolizisten, wenn sie bei der Ausreisekontrolle Verdacht auf „Ferienverlängerung“ schöpfen, die zuständigen Behörden benachrichtigen. Die Bezirksregierungen prüfen diese Fälle und leiten gegebenenfalls Verfahren ein. Allerdings haben die Sicherheitskräfte noch viele andere Aufgaben und können sich nicht ständig um das Thema Ferienverlängerung kümmern.

Wie ist die Rechtslage?

Etwas knifflig. Natürlich müssen Kinder bis zum letzten Schultag weiter zur Schule gehen. Die Frage, ob Schulen von Eltern in den Tagen vor und nach den Ferien bei Fehlzeiten grundsätzlich ein ärztliches Attest verlann können, ist aber nicht so einfach zu beantworten. Laut Paragraf 43 Schulgesetz NRW reicht bei Fehlzeiten eine schriftliche Entschuldigung der Eltern. Weiter heißt es: „Bei begründeten Zweifeln, ob Unterricht aus gesundheitlichen Gründen versäumt wird, kann die Schule von den Eltern ein ärztliches Attest verlangen“.

Kann man daraus das Recht von Schulen ableiten, vor den Ferien pauschal Atteste zu verlangen? Nein, stellt das NRW-Schulministerium klar: „Ein ärztliches Attest sollen die Schulen ausdrücklich nur dann einfordern, wenn begründete Zweifel bestehen, dass der Schüler beziehungsweise die Schülerin tatsächlich erkrankt ist. Eine generelle Attestpflicht für das krankheitsbedingte Fehlen vor und nach den Ferien gibt es also nicht. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend.“

Wie argumentieren die Kinderärzte?

Sie sagen, die Forderung von Schulen nach einem ärztlichen Attest diene nur Kontrollzwecken. „Das Ausstellen solcher Atteste fällt somit nicht in unseren ärztlichen Versorgungsauftrag“. Der Stress in den Praxen sei groß, das Personal habe Wichtigeres zu tun.

Die Kindermediziner schlagen vor, dass der Staat über den öffentlichen Gesundheitsdienst – also über Gesundheitsämter – Attest-Möglichkeiten schaffen oder Ordnungsämter beauftragen könnte. Besonders praktisch wäre „ein kurzer Besuch im Schulsekretariat“, um zu beweisen, dass das Kind vor Ort und nicht im Urlaub ist.

Könnte der öffentliche Gesundheitsdienst aushelfen?

Nein, versichert Dr. Emmanuel Wiggerich, Sprecher des Landeverbandes des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, auf Nachfrage. „Wir sind personell so knapp aufgestellt, dass wir gerade eben unsere gesetzlichen Aufgaben schaffen. Wir können ja nicht die Schuleingangsuntersuchungen runterfahren, um uns um Atteste zu kümmern.“ Im Übrigen sei das Ausstellen von Attesten für Schulen grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe.

Was sagen Schulleitungen?

Harald Willert, Chef der Schulleitungsvereinigung NRW, sagt, Atteste sollten nicht standardmäßig eingefordert werden. Sie seien aber sinnvoll, wenn im Einzelfall ein Verdacht auf Ferienverlängerung bestehe.

Was sagen Lehrer und Eltern?

Der Vorstoß der überlasteten Mediziner sei verständlich, meint Oliver Ziehm, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gymnasien. Dennoch dürften sich die Kinder- und Jugendärzte nicht weigern, Schülerinnen und Schülern um die Ferienzeit Atteste auszuschreiben. Grundsätzlich zeigt die Landeselternschaft kein Verständnis für Eltern, die unbegründet die Urlauszeit ihrer Kinder verlängern möchten: „Die Schulpflicht gilt selbstverständlich bis zum ersten Ferientag.“ Ziehm schlägt vor, die Schulbefreiung von Kindern und Jugendlichen an Flughäfen und Bahnhöfen bei Stichpunktkontrollen zu überprüfen. „Wir wollen, dass es gerecht zugeht und sich nicht einige Eltern ein Recht rausnehmen, das sie nicht haben.“

Für den Philologenverband NRW ist die angekündigte Weigerung der im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte organisierten Mediziner „nicht nachzuvollziehen“. Der Verband verweist auf einen Erlass des Schulministeriums unter Bezug auf das NRW-Schulgesetz: „Unmittelbar vor und im Anschluss an die Ferien darf eine Schülerin oder ein Schüler nur beurlaubt werden, wenn die Beurlaubung ersichtlich nicht dem Zweck dient, die Schulferien zu verlängern, preisgünstigere Urlaubstarife zu nutzen oder möglichen Verkehrsspitzen zu entgehen.“ Der Philologenverband, der die Interessen der Lehrkräfte an Gymnasien und Gesamtschulen vertritt, sieht „keinen Grund, an dem bisherigen und nachvollziehbaren Verfahren etwas zu ändern“.

Katrin Schäfer, Vize-Vorsitzende der Landeselternkonferenz (LEK), findet den Vorschlag der Kinderärzte, dass Eltern rund um die Ferien selbst Atteste ausstellen sollten, nicht schlüssig. „Dann besteht die Gefahr, dass die Eltern etwas Falsches bescheinigen.“ Kinder, die tatsächlich erkrankt seien, gerieten dadurch zudem unter Generalverdacht.