Düsseldorf. Es werden immer mehr grausame Details über den Angriff in Ratingen bekannt. So lief der scheinbare Routineeinsatz, der in einer Tragödie endete.

Das verstörende Bild von dem, was am 11. Mai in einem Ratinger Hochhaus geschah, wird immer vollständiger. Am Montag informierten NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sowie ein Vertreter des NRW-Justizministeriums den Innenausschuss des Landtags über den neuesten Stand der Ermittlungen. Sie schilderten einen Angriff, der für viele der beteiligten Rettungskräfte grausame Konsequenzen hatte: Brennende Polizeibeamte liefen zehn Stockwerke herunter, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Körperoberfläche einer Polizistin wurde zu 80 Prozent verbrannt.

Was bisher bekannt ist über die dramatischen Ereignisse am Vormittag des 11. Mai lesen Sie hier. Die Schilderung stützt sich auf die Informationen aus dem Innenausschuss.

Der Beginn des Einsatzes:

Eine Wohnungsgesellschaft informiert die Polizei in Ratingen über eine vermisste Frau, die in einem Hochhaus an der Berliner Straße in Ratingen wohnt. Dem Hausmeister war zuvor aufgefallen, dass der Briefkasten überquoll und dass Verwesungsgeruch aus der Wohnung drang. Ein vermeintlicher Routineeinsatz beginnt, Stichwort: "Hilflose Person hinter Tür". Die Polizisten erfahren um 10.01 Uhr, dass gegen den Sohn der Vermissten, der ebenfalls in dieser Wohnung lebt, ein Haftbefehl wegen einfacher Körperverletzung vorliegt. Er soll Nachbarn geohrfeigt haben. Um 10.13 Uhr fährt eine Streife von der Wache los. Sie trifft um 10.22 an dem Haus ein.

Die Polizei Ratingen bittet die Feuerwehr um 10.34 zu einer Türöffnung. Drei Minuten später machen sich ein Löschfahrzug, ein Notarzt- und ein Krankenwagen auf den Weg. Kurz vor 11 Uhr melden die eingesetzten Polizisten, dass die Wohnungstür verbarrikadiert sei und dass Leichengeruch in der Luft liege. Die Feuerwehr versucht um kurz nach 11 Uhr, die Wohnung zu öffnen. Zunächst vergeblich.

Die Situation eskaliert

Die Wohnungstür ist von innen mit Getränkekisten verbarrikadiert. Feuerwehrleute zerschlagen eine Glasscheibe in der Tür. So gelingt es ihnen, die Kisten wegzuschieben und die Tür zu öffnen.

Eine Polizistin und ein Polizist betreten die Wohnung zuerst, der Beamte schreitet mit eingeschalteter Körperkamera ("Bodycam") voran. Die beiden gehen zunächst in das rechts vom Flur gelegene Badezimmer. Die Polizistin sieht daraufhin einen Mann in der Wohnung und informiert ihren Kollegen. Der Polizist zieht seine Waffe. Beide fordern den Mann auf, sich hinzulegen.

Er folgt der Aufforderung nicht. Stattdessen schüttet er einen Schwall einer brennbaren Flüssigkeit, höchstwahrscheinlich Benzin, in Richtung der Beamtin und entfernt sich kurz. Dann setzt er die Polizistin "mit einer Flamme" von der Hüfte aufwärts in Brand. Das Feuer breitet sich blitzartig aus und greift auch auf nachrückende Einsatzkräfte über.

Um 11.16 Uhr ruft ein Polizist vor Ort über die Nummer 110 Hilfe: Jemand habe sich angezündet, "alle" seien schwer verletzt, man benötige Unterstützung. Auch die Feuerwehr setzt einen Notruf ab. Um 11.18 Uhr rücken unter dem Einsatzstichwort "Explosion" in Ratingen weitere Einsatzkräfte aus.

Die furchtbaren Konsequenzen

Die Rettungskräfte, die in und an der Wohnung sind, versuchen sich brennend in Sicherheit zu bringen. Offenbar geleitet der brennende Polizist, der zuerst in die Wohnung ging, seine in Flammen stehende Kollegin zehn Stockwerke herunter bis auf die Straße.

Neun Menschen werden durch den Angriff so stark verletzt, dass sie in Krankenhäuser eingeliefert werden müssen. Die Körperoberfläche der mit Benzin überschütteten Polizeibeamtin sei zu 80 Prozent verbrannt, erklärte der Vertreter des Justizministeriums am Montag im Innenausschuss. Ihr Kollege sowie drei Rettungskräfte erleiden ebenfalls schwerste Verbrennungen. Brandverletzungen haben darüber hinaus zwei Feuerwehrleute, zwei Rettungsassistenten und der eingesetzte Notarzt. Die Zahl der Verletzten liegt insgesamt bei 35. Drei schweben auch heute noch in Lebensgefahr.

Die Stunden nach dem Angriff

Ein Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei dringt gegen 13 Uhr in die Wohnung ein. Der Auftrag ist extrem herausfordernd und gefährlich: In der Wohnung befindet sich offenbar ein zu allem entschlossener Gewalttäter, der bewaffnet sein soll oder sogar Sprengmittel besitzen könnte. Das SEK arbeitet mit Atemschutz, muss mit Schläuchen, die die Feuerwehr gelegt hat, selbst löschen und den Angreifer suchen.

Der Beschuldigte ist auf den Balkon geflüchtet, wo er festgenommen wird. Der 57-Jährige ist selbst nur leicht verletzt: Ein Polizeiarzt stellt eine Brandwunde an der Stirn und eine leichte Rauchgasvergiftung fest. Gegen den 57-Jährigen wird Haftbefehl erlassen.

Dann finden die Polizisten in der Wohnung eine verwesende und zum Teil skelettierte Frauenleiche in einem Rollstuhl. "Dabei dürfte es sich um die 91-jährige Mutter des Beschuldigten handeln", erklärte ein Vertreter des Justizministeriums im Innenausschuss. Bei einer Untersuchung des Leichnams sei bis auf eine Fraktur im Lendenwirbel keine Spur von Gewalt gefunden worden. Es hat sich wahrscheinlich um einen natürlichen Tod gehandelt, vermuten die Ermittler.

Es scheint so, dass der Mann die Rettungskräfte in eine Falle lockte. Gehörte er auch der Reichsbürger- und der Prepper-Szene an? Fest steht: Der Mann hatte ungewöhnlich große Mengen an haltbaren Lebensmitteln gehortet. Es wurden auch einige Dokumente gefunden, die eine Verbindung zu Corona-Leugnern nahelegen.

Hat der Verdächtige Bezüge zur "QAnon"-´Bewegung?

Laut dem Kölner Stadt-Anzeiger soll es sich um Schriftstücke handeln, die Bezüge zur Verschwörungsbewegung „QAnon“ erkennen lassen. Die Gruppe verbreitet aus den USA rechtsextremistische Verschwörungstheorien, in deren Zentrum eine vermeintliche satanistische Elite steht.

Wie das Kölner Nachrichten-Portal unter Verweis auf Ermittlerkreise weiter berichtet, soll der Verdächtige weiter zur Tat schweigen. Er soll sich geweigert haben, dem beauftragten psychiatrischen Gutachter Rede und Antwort zu stehen. Gegen den 57-Jährigen liegen keine Erkenntnisse des Staatsschutzes vor.