Brüssel. Die EU-Parlamentspräsidentin drängt zu Taurus-Lieferungen an Kiew. Was die EU noch von Deutschland erwartet, was ihr Sorge macht.

Roberta Metsola ist seit knapp drei Jahren Präsidentin des EU-Parlaments. Im Interview in ihren Brüsseler Amtsräumen spricht die 45-Jährige von der christdemokratischen EVP Klartext zur Taurus-Debatte, fordert mehr Führung in Europa – und sagt, was die EU von der Bundestagswahl erwartet.

Frau Präsidentin, tausend Tage nach dem Beginn des Krieges gerät die Ukraine unter massiven Druck der russischen Angreifer. Kann die Ukraine diesen Krieg doch noch verlieren?

Roberta Metsola: Wir werden der Ukraine weiter helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Die völkerrechtswidrige Invasion Russlands ist durch nichts zu rechtfertigen. Eine große Mehrheit des Europäischen Parlaments hat gerade ein starkes Signal gesendet: Wir stehen weiter an der Seite der Ukraine, so lange es nötig ist. Dass Russland den Krieg jetzt eskaliert und seine Raketenangriffe mit vielen zivilen Opfern noch verschärft, muss uns alarmieren: Wir müssen unsere Hilfe für die Ukraine verstärken.

Die US-Regierung erlaubt der Ukraine den Einsatz von Raketen auch gegen Ziele in Russland. Müssen die EU-Staaten dem Beispiel folgen – auch Deutschland mit der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern?

Metsola: Ja, das ist auch die Position des EU-Parlaments. Es gibt breite Unterstützung für diese Forderung. Wir werden sehen, ob es nach der Bundestagswahl zu einer entsprechenden Kursänderung kommt. Oder vielleicht schon vorher, es gibt ja auch in der Berliner Koalition unterschiedliche Positionen zur Taurus-Lieferung. Denn Präsident Selenskyj hat Recht: Die Ukraine kann nicht ewig weiter warten, weil immer gerade Wahlen in einem westlichen Land stattfinden – während in der Ukraine jeden Tag Menschen im Krieg sterben. 

Ukrainischer Präsident Selenskyj
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drängte zuletzt in einer Videoansprache vor dem EU-Parlament auf stärkere HIlfe für sein Land im Krieg gegen die russischen Angreifer. © DPA Images | Michael Kappeler

Was würde ein Sieg Russlands für Europa bedeuten?

Metsola: Putin würde dann mit seiner Aggression nicht aufhören. Er hat auch 2014 nach der Krim-Besetzung nicht aufgehört. Wir hätten früher reagieren müssen. Putins Regime kennt keine Achtung vor Menschenleben, es verachtet Demokratie und erkennt die territoriale Integrität von Staaten nicht an. Wir wissen aus der Geschichte, wie gefährlich das ist. Das muss uns allen Sorgen machen, nicht nur in Europa.

Der designierte US-Präsident Trump sagt, er wolle den Ukraine-Krieg schnell durch Friedensverhandlungen beenden. Schaut die EU zu – oder welche Rolle soll sie spielen?

Metsola: Wir dürfen bei niemandem den Eindruck erwecken, wir könnten für die Ukraine ein Ende des Krieges verhandeln – ohne Beteiligung der Ukraine. Europa muss zugleich weg von der alten Rollenteilung, dass die USA agieren und Europa reagiert. Die Lage hat sich geändert: 2016 gab es viel Kritik wegen der unzureichenden Verteidigungsanstrengungen europäischer Staaten innerhalb der Nato. Aber wir haben unsere militärischen und finanziellen Anstrengungen sehr deutlich ausgeweitet. Wenn jetzt der Krieg auf unserem Kontinent, in unserer Nachbarschaft tobt, müssen wir mit den USA auf Augenhöhe reden.

Europa muss selbstbewusster auftreten?

Metsola: Europa spielt jetzt eine andere Rolle – im Zusammenhang mit jeder Art von Verhandlungen und auch in unseren direkten Gesprächen mit den USA. Die USA haben gewählt, Europa hat gewählt, jetzt sollten wir zuerst besprechen, was uns eint. Wir sollten mit der neuen US-Regierung schnell über den Umgang mit China reden und über den Kurs gegenüber Iran. Ich selbst stimme mich mit der Führung im US-Kongress ab, etwa zu parallelen Parlamentsentscheidungen über die Ukraine-Finanzhilfe. Was wir uns allerdings nicht mehr leisten können, sind 27 unterschiedliche Stimmen der EU-Staaten plus die von Parlament, Kommission und Rat.  

Die neue Kommission ist ja noch nicht mal im Amt, die Bestätigung durch das Parlament hatte sich verzögert …

Metsola: Wir haben unsere Aufgabe sehr ernst genommen. Wir hatten komplizierte Fragen zu klären. Vorher hat es lange gedauert, bis uns die Vorschläge für die 26 Kommissare erreichten. Das Schlimmste wäre, wenn das Parlament diese Vorschläge zur Besetzung einfach ohne Prüfung abnicken würde. Am Mittwoch stimmt das Europaparlament über die neue Kommission ab, sodass sie am 1. Dezember starten dürfte – so wie es im Übrigen auch vor fünf oder zehn Jahren der Fall war.

Es gab zuletzt viele Klagen von Abgeordneten, dass die Kommission ihre Rechte ignoriert und es an Transparenz fehlen lässt. Wird das jetzt besser?

Metsola: Wir können nicht dulden, wenn EU-Kommissare nicht bereit sind, im Parlament zu erscheinen und unsere Fragen zu beantworten. Es gibt auch keinen Grund, das Parlament mit Notfall-Klauseln zu umgehen. Wir haben gezeigt, dass wir Gesetze sehr schnell beraten und beschließen können. Ich bin stolz auf das Parlament, wir sind jederzeit handlungsfähig. Als Antwort auf fehlende Konsultationen und jahrelange Ausnahme-Verfahren haben wir uns jetzt mit der Kommission auf eine neue Rahmenvereinbarung geeinigt, um die Zusammenarbeit zu verbessern. 

Die Präsidentin des EU-Parlaments, Roberta Metsola (rechts), mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.  Die Zusammenarbeit von Parlament und Kommission soll besser werden.
Die Präsidentin des EU-Parlaments, Roberta Metsola (rechts), mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Zusammenarbeit von Parlament und Kommission soll besser werden. © AFP | Frederick Florin

Die EU gibt im Moment kein gutes Bild ab: Das Wirtschaftswachstum schwächelt, die Wettbewerbsfähigkeit sinkt, der Zusammenhalt bröckelt, Populisten sind auf dem Vormarsch. Was muss passieren, damit die EU stärker und attraktiver wird ?

Metsola: Europa braucht Führung. Wir sind nicht einig genug, wir sprechen mit zu vielen verschiedenen Stimmen. Das kann so nicht weitergehen. Wir bilden den größten Binnenmarkt der Welt, sind Weltspitze in Wissenschaft und Technologie. Aber wir brauchen auch starke Regierungen in den Mitgliedstaaten. Wir benötigen für stärkere Wettbewerbsfähigkeit mehr Investitionen – wie das zu finanzieren ist, müssen wir dringend klären. Wir brauchen bessere, einfachere Regulierung. Und die proeuropäische Mehrheit im EU-Parlament muss Antworten geben auf die Sorgen der Bürger, die ihren Lebensstandard nicht halten können und sich im Stich gelassen fühlen – sonst verlieren die Pro-Europa-Kräfte an Unterstützung. 

Der Plenarsaal des EU-Parlaments in Straßburg.
Der Plenarsaal des EU-Parlaments in Straßburg. © AFP | Frederick Florin

Was heißt es für die EU, dass Deutschland jetzt wegen der Neuwahlen praktisch für ein halbes Jahr als Mitgestalter ausfällt?

Metsola: Ein starkes Europa braucht ein starkes Deutschland. Und eine entschlossene deutsch-französische Allianz, auch ergänzt um Polen und Italien. Wenn das gelingt, kann die EU wirklich kraftvoll agieren, trotz schwieriger Regierungskoalitionen in einigen Mitgliedstaaten. Man kann dann mit Deutschland übereinstimmen oder nicht – entscheidend ist, dass die deutsche Position klar ist. 

Das vermissen Sie?

Metsola: Wir hoffen sehr, dass es mit der Bundestagswahl diese Klarheit geben wird. Der Wahlkampf und das Wahlergebnis in Deutschland werden auch ein Lackmustest für ganz Europa. Welchen Einfluss bekommen populistische Parteien, wen wählen enttäuschte Bürger? Ich fürchte, zu viele Politiker haben diese Frage zu lange ignoriert. Die Europawahl war schon eine Art Momentaufnahme, nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland bin ich aber sehr besorgt. Mein Appell geht an die proeuropäischen, proukrainischen Parteien in Deutschland: Sie sollten zusammenstehen. Was in Deutschland in den nächsten vier Jahren passiert, hat großen Einfluss auf die nächsten vier Jahre der Europäischen Union.