Berlin. Sahra Wagenknecht las gerade Kant, als die Mauer fiel. Sieben Spitzenpolitiker erinnern sich an den Abend, der Deutschland verändert hat.

Es ist ein Donnerstagabend im Spätherbst. Um 18 beginnt die legendäre Pressekonferenz mit Günter Schabowksi, an deren Ende der berühmte Satz zu den neuen Reiseregeln fällt. Wann sie in Kraft treten? „Das tritt nach meiner Kenntnis… Ist das sofort, unverzüglich.” Die Nachricht vom Fall der Mauer verbreitet sich an diesem 9. November rasant. 35 Jahre später erinnern sich sieben Spitzenpolitiker aus Ost und West an den Moment, der ihr Leben verändert hat.

Katrin Göring-Eckardt / Bündnis 90/Die Grünen
Katrin Göring-Eckardt ist Vizepräsidentin des Bundestags. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Katrin Göring-Eckardt (Grüne)

„Der 9. November ’89 war ein kühler, bewölkter Tag. Zumindest in Thüringen. Dort saß ich in unserem Dorf vor dem Fernseher und schaute die Nachrichten. Mein gerade geborener Sohn schlief neben mir auf der Couch, als ich erfuhr, dass die Mauer gefallen war – endlich. Auch ich war für Freiheit auf die Straße gegangen. Für die Freiheit des Reisens, des Redens, des Wählens. Doch mehr als mit dem Trabi dem Westen einen ersten Besuch abzustatten, interessierte mich, wie es weitergehen sollte. Ich wollte für Veränderung in meinem, unserem Land sorgen. Es ging dann alles sehr schnell. Mit unseren Vorschlägen, etwas Neues, Gemeinsames zu schaffen, drangen wir nicht durch. Und doch bin ich froh, wie sich die Dinge fügten. Und ich weiß, dass es sich für Freiheit ein- und aufzustehen lohnt. Immer und überall.“

Sahra Wagenecht ist Pateichefin des BSW..
Sahra Wagenecht ist Pateichefin des BSW.. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Sahra Wagenknecht (BSW)

„Ich war daheim und habe Kant gelesen, als die Mauer fiel. Ich war 20 Jahre alt und befand mich in einer ziemlich ausweglosen Situation, weil ich wegen meiner Kritik am System in der DDR nicht studieren durfte. Trotzdem wollte ich damals nicht, dass die DDR untergeht, sondern hoffte darauf, dass sie sich von innen heraus reformieren lässt. Mit dem Fall der Mauer war klar, dass das eine Dynamik in Richtung eines schnellen Anschlusses an die Bundesrepublik auslösen würde. Insofern war ich damals innerlich gespalten. Ein Ende der DDR versprach für mich persönlich die Möglichkeit, endlich studieren oder auch nach Rom oder Paris reisen zu können, was mich brennend interessierte. Zugleich war ich damals überzeugte Sozialistin und konnte mich über eine Entwicklung, die ich als ‚Sieg des Kapitalismus‘ empfand, nicht freuen.“

Dietmar Bartsch / die linke
Dietmar Bartsch ist Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Fraktionschef der Linken. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Dietmar Bartsch (Linke)

„Natürlich kann ich mich gut an den 9. November 1989 erinnern. Ich hatte im Jahr 1987 meine Aspirantur an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Moskau begonnen, die 1990 mit der Promotion zu Ende gehen sollte. An jenem 9. November war ich bereits einige Tage in Berlin. Damals trieb mich vor allem die Sorge um, inwieweit ich meine Promotion erfolgreich beenden kann. Der damalige Betreuer aus der DDR hatte mir kurz zuvor gesagt, dass diese Arbeit voller Revisionismus stecke, ich nochmal von vorn beginnen müsse. Das war natürlich ein harter Schlag für mich. Als ich am 9. November Herrn Schabowski im Fernsehen sah, gab es bei mir ein Gefühl der Spannung und der Unsicherheit: Was wird nun passieren? Ich habe mir vorgenommen und das auch realisiert, schnellstmöglich nach Westberlin zu fahren, um diesen Teil der Stadt zu sehen. Das konkrete Ergebnis führte bei mir allerdings zu einer gewissen Enttäuschung, weil ich nicht bei einem der großen Grenzübergänge rübergegangen bin, sondern am Tag nach dem 9. November im tiefsten Kreuzberg wenig Begeisterung entfalten konnte und nach einer kurzen Stippvisite zurückgefahren bin. Es blieb das Gefühl der Sorge: werde ich meine Promotion in Moskau beenden können? Wie wird der weitere Weg des Landes, der ganzen Welt sein? Mir war zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass diese Zeit der Anfang vom Ende auch einer eventuell reformierten DDR war. Letztlich waren Angst und Sorge vorherrschend, die das Gefühl der Freiheit und des neugierigen Besuchs in Westberlin verdrängt haben.“

Matthias Miersch / SPD-Generalsekretär
Matthias Miersch ist Generalsekretär der SPD. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Matthias Miersch (SPD)

„Ich weiß es noch genau. Ich war am 9. November in der „Teestube“ in meiner Heimatstadt Laatzen. Das war ein offener Jugendtreff, den wir als CVJM organisiert haben. Als die Meldung kam, war mir der historische Moment bewusst. Meine Schwester studierte damals in Berlin, so dass ich sofort beschloss, in den kommenden Tagen sie dort zu besuchen, was ich dann auch getan habe. Die dort gesammelten Mauerstücke habe ich noch heute.“

Besprechung Bundeskanzler mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder - 20.06.2024
Reiner Haseloff ist Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. © picture alliance / Fotostand | Fotostand / Reuhl

Reiner Haseloff (CDU)

„Am Abend des 9. November saßen wir in meiner Heimatstadt Wittenberg in einem Wende-Bürgerforum und diskutierten mit dem Bürgermeister und dem SED-Kreissekretär über ein von uns eingefordertes alternatives, plurales Bildungssystem. Kritische Fragen wurden gestellt, plötzlich Geraune und die Sitzreihen lichteten sich. Es gab das Gerücht, die Grenze sei offen. Viele machten sich auf den Weg nach Berlin. Meine Frau und ich gingen jedoch erst einmal nach Hause. Gedanken schossen uns durch den Kopf: Würde die Grenze offenbleiben? Wie würden sich die sowjetischen Streitkräfte im Land verhalten? Zwei Tage später wollte meine Frau – es war Samstag – pflichtbewusst ihren Schmerzdienst als Zahnärztin absolvieren. Natürlich kam kein Patient. Wir sind dann mit unseren Söhnen losgefahren und stundenlang durch Westberlin gelaufen. Uns war klar, die Welt hatte sich in kurzer Zeit grundlegend gewandelt.“

newstime ProSiebenSat.1 Empfang in Berlin
Bijan Djir-Sarai ist Generalsekretär der FDP. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Max Patzig/Geisler-Fotopress

Bijan Djir-Sarai (FDP)

„Ich habe den Abend des Mauerfalls als Jugendlicher im Alter von 13 Jahren erlebt. Es war für mich beeindruckend, dass viele Erwachsene emotional so stark bewegt waren, dass sie Tränen in den Augen hatten. Ich war als junger Schüler zwar noch nicht in der Lage, die innen- wie geopolitische Bedeutung dieses Ereignisses vollständig zu begreifen. Trotzdem war mir in dem Moment klar, Zeitzeuge eines glücklichen historischen Augenblicks zu sein. Im Unterricht wurde uns dann bald erklärt, was für weitreichende politische Folgen dieser besondere Abend haben sollte.“

Agrarminister Özdemir übernimmt Bildungsministerium auf Zeit
Cem Özdemir ist Bundesminister für Landwirtschaft und Bildung. © DPA Images | Frank Molter

Cem Özdemir (Grüne)

„Im Jahr 1989 war ich Mitglied des Landesvorstands der Grünen in Baden-Württemberg und verfolgte die Ereignisse des 9. November aus Tübingen vor dem Fernseher. Meine Erinnerung an diesen Tag ist geprägt von der Spannung und der ungläubigen Freude über die historischen Nachrichten. Doch ich erinnere mich auch, dass viele Menschen der Wiedervereinigung mit Angst und Sorge entgegensahen - etwas, das ich nicht verstehen konnte. Für mich stand nie das ,Ob‘ der Wiedervereinigung infrage, sondern allein das ,Wie‘. Der Mauerfall war für mich ein Moment der reinen Zuversicht und Hoffnung, ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte, der auch auf mein eigenes Leben einen starken Einfluss nahm.“

podcast-image