Düsseldorf. Nach der Clan-Randale in einer Essener Klinik legt NRW einen Leitfaden gegen Gewalt im Krankenhaus vor. Die Maßnahmen haben es in sich.

Simon Härtel ist seit 20 Jahren im Gesundheitswesen tätig, er war Krankenpfleger auf der Intensivstation und arbeitet heute als Pflegedirektor beim Evangelischen Krankenhaus in Mülheim. In diesen zwei Jahrzehnten hat er nicht nur viel Leid gesehen, sondern auch einen drastisch veränderten Umgang von Patienten mit persönlichen Grenzsituationen.

Es habe sich in der Gesellschaft ein Egoismus breitgemacht, dass jeder nur noch sich sehe, sagt Härtel. „Die Menschen sind gewohnt, alles geht schneller. Ich komme in die Notaufnahme und ich werde sofort behandelt.“

Dabei ist gerade die überfüllte Notaufnahme eines Krankenhauses kein Ort, an dem nach Wartezeit bedient wird. Rettungswagen lieferten laufend Notfälle ein, weshalb eigentlich jedem verständlich sein müsste, „warum es dort nicht der Reihe nach, sondern nach der Dringlichkeit geht“, sagt Matthias Ernst, Vize-Präsident der Krankenhausgesellschaft NRW.

Die jüngste Clan-Randale gegen Mitarbeiter des Essener Elisabeth-Krankenhauses, ausgelöst durch den Herztod eines 87-jährigen Familienoberhaupts, hat ein Problem bundesweit in den Fokus gerückt, das Praktiker wie Simon Härtel und Matthias Ernst schon länger beschäftigt: Gewalt und Gewaltprävention in Kliniken.

94 Prozent der Beschäftigten einer Notaufnahme erlebten schon mindestens verbale Gewalt

Gemeinsam mit Innenminister Herbert Reul und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (beide CDU) hat die Krankenhausgesellschaft am Mittwoch erstmals einen Leitfaden mit Handlungsempfehlungen vorgelegt. „Praktische Hilfe, kein großes Geschwafel“, versichert Reul. „Kleine Ideen für große Sicherheit“, sagt Laumann. Erarbeitet von Ärzten, Pflegern und Polizisten. Knapp 50 Seiten sind herausgekommen für den Alltag von Klinikmitarbeitern, die eigentlich helfen wollen, aber immer häufiger selbst Hilfe benötigen.

„Dabei sprechen wir nicht von einem Ausmaß von entfesselter Gewalt, die unsere Kolleginnen und Kollegen im Elisabeth-Krankenhaus in Essen erleben mussten“, sagt Vize-Präsident Ernst von der Krankenhaus-Gesellschaft. Doch einer Branchenumfrage zufolge hätten 94 Prozent der Beschäftigten in deutschen Notaufnahmen schon verbale Gewalt erlebt, mehr als zwei Drittel sogar körperliche Attacken.

Pflegedirektor Härtel berichtet, „dass fast zur Normalität gehört, dass man in einem fordernden Ton angesprochen wird“. Der Leitfaden bietet den Kliniken eine Art Checkliste zu Präventions- und Nachsorgeangeboten, macht Vorschläge zur baulichen Gestaltung (Beleuchtung, Zugangsbeschränkung, Schutzzonen) eines Krankenhauses unter Sicherheitsaspekten und gibt konkrete Verhaltenstipps.

Der stille Alarmknopf im Krankenhaus ruft unbemerkt die Polzei zur Hilfe

Seitlich zum Patienten stehen, um geringe Angriffsflächen zu bieten. Ich-Botschaften senden („Ich habe den Eindruck, dass Sie…“). Signale äußerer Unruhe lesen können wie „permanentes Auf- und Abgehen“. Fluchtmöglichkeiten im Auge behalten. Der Patient oder seine Angehörigen, eigentlich Empfänger von Hilfe und Fürsorge, müssen hier plötzlich aus einer ganz neuen Warte betrachtet werden.

Gesundheitsminister Laumann, der schon einmal vor fast 20 Jahren sein Amt bekleidete, findet es erkennbar bedrückend, dass so etwas inzwischen notwendig geworden ist. Er kann sich nicht daran erinnern, dass Angriffe auf das Krankenhauspersonal die Politik früher beschäftigen mussten. Es hat sich etwas verschoben. „Das ist eine Entwicklung, die uns Sorgen machen muss“, findet Laumann. Das Krankenhaus sicherer zu machen, ohne den persönlichen Kontakt zwischen Beschäftigten und Patienten einzuschränken, sei nun die Aufgabe.

Pflegedirektor Härtel schildert, dass das Evangelische Krankenhaus in Mülheim bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen habe, die sich vermutlich auch andere Klinikmanager zum Vorbild nehmen werden. Etwa das Konzept des „stillen Alarms“, das mit Reuls Polizeidienststellen erarbeitet wurde.

Werden Patienten schon in der Eingangshalle auffällig, erzählt Härtel, „können die Kollegen, wenn sie das selbst nicht mehr händeln können, den stillen Alarmknopf drücken. Die Polizei meldet sich dann, und wenn man nicht dran geht, kommt sie vorbei und greift in die Situation ein.“

Zum „Null Toleranz“-Kurs gegen Gewalt gehört auch ein geschultes Stressbewältigungsteam, das Mitarbeitern nach dem aufwühlenden Umgang mit renitenten Patienten hilft. Am Wochenende sorgt ein Sicherheitsdienst für ein besseres Gefühl bei den Beschäftigten. Wenn im Nachtdienst eine Pflegekraft pro Station allein „auf so einem langen Flur“ verantwortlich sei, findet Minister Laumann, „dann kann ich mir schon vorstellen, dass man auch denkt: Wie ist hier eigentlich meine Sicherheit gewährleistet?“

In Mülheim setzen sie bereits seit Jahren auf eine EDV, die schon einmal auffällig gewordene Patienten speichert. „Der wird natürlich noch behandelt in Akutsituationen bei uns, dann ist aber für den Mitarbeiter schon erkenntlich, okay, da könnte es zu Problemen kommen“, so Härtel.

Angesichts des Fachkräftemangels kann sich keine Klinik leisten, dass Mitarbeiter aus Angst vor Übergriffen ausscheiden. „Wir sind es unseren Leuten einfach schuldig“, findet Härtel, „dass sie in Ruhe ihren Dienst fortführen können.“