Berlin. Leihroller liegen oft mitten auf dem Gehweg. Verena Bentele hält das für eine Gefahrenquelle. In Bremen stürzte ein blinder Mann schwer.
Mit seinem Blindenstock tastet Klaus Bopp den Gehweg vor sich ab. Immer wieder pendelt der 54-Jährige von links nach rechts, Schritt für Schritt bahnt er sich den Weg zur Arbeit – wie jeden Tag. Doch an diesem Sommermorgen in Bremen verfehlt er ein Hindernis knapp. Mit fatalen Folgen.
Bopps Fuß verhakt sich an einem herumliegenden E-Scooter, er stolpert, fällt. Und bricht sich den Oberschenkelhals. „In dem Moment war mir sofort klar, was passiert ist“, erzählt er unserer Redaktion.
E-Scooter stellen für eingeschränkte Personen „unüberwindbare Hürden“ dar
Für viele Menschen gehören E-Scooter längst zum Alltag, bieten die Möglichkeit, unkompliziert und ohne Parkplatzsuche durch den Stadtverkehr zu kommen. Allerdings liegen vor allem Leihgeräte auf den Bürgersteigen herum – und werden zum Hindernis. Laut Sozialverband VdK stellen sie für körperlich beeinträchtigte Personen und Familien jedoch nicht nur eine Hürde dar, sondern eine regelrechte Gefahr.
Polizei Bremen machte Klaus Bopp für den Sturz verantwortlich
Für Klaus Bopp, der hauptberuflich bei der Agentur für Arbeit angestellt ist, seien es jedenfalls „die größten Schmerzen meines Lebens“ gewesen, sagte er. Doch das war nicht die einzige unangenehme Folge: Nach dem Unfall wendete sich Bopp direkt an die Polizei, erklärte den Unfallhergang. In einem Protokoll, das unserer Redaktion vorliegt, beantwortet ein Beamter die Schuldfrage des Sturzes: „Für Blinde stelle ich mir das extrem schlimm vor“, heißt es darin, „aber letztendlich ist man selbst dafür verantwortlich, nirgendwo gegenzurennen.“
Bopp soll also selbst schuld sein. Obendrein war zunächst unklar, ob er für den Schaden an dem Scooter aufkommen muss. Der Schock darüber sitzt beim 54-Jährigen tief. Er ist sich der Gefahr durch rumliegende Scooter zwar bewusst, doch an diesem Morgen hatte er nicht mit ihnen auf dem Gehweg gerechnet. Mit seiner schweren Verletzung zog Bopp vor das Landesgericht Bremen, um Schadensersatz zu fordern.
Städte verbannen E-Scooter, Probleme sind bekannt
Dass herumstehende E-Scooter eine Gefahr sind, hat woanders bereits zu einer drastischen Konsequenz geführt: In Paris sind leihbare E-Scooter seit über einem Jahr verboten, in Madrid ab Oktober 2024. Die Verleiher exportierten daraufhin zahlreiche Geräte nach Berlin. Alle 70 Meter liegt laut Fuss e.V. ein E-Scooter in Berlin im Weg, wohl auch, weil sie in vielen Städten inzwischen nicht mehr in Bussen und Bahnen mitgenommen werden dürfen – wegen des Brand- und Explosionsrisikos, das vom Akku ausgeht.
Doch nicht nur die Fußgänger sind gefährdet, sondern auch die Fahrer: Infolge von Roller-Unfällen landeten täglich Menschen in den Krankenhäusern – mit Platzwunden, größeren Abschürfungen oder Muskelverletzungen, berichtet ein Arzt der Berliner Charité. Überwiegend seien junge Männer betroffen, „ab und an Radfahrer, die zusammenprallen“.
E-Scooter sind umstritten, seitdem sie im Juni 2019 für den Straßenverkehr zugelassen wurden. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband klagte bereits vor dem Verwaltungsgericht in drei Bundesländern, unter anderem in Bremen, wo sich Klaus Bopp so schwer verletzte.
Neue E-Roller-Verordnung geplant – DBSV übt deutliche Kritik: Anstatt die gefährliche Situation für blinde und sehbehinderte Menschen zu entschärfen, sind Änderungen im Straßenverkehrsrecht geplant, die das Gegenteil bewirken.
— DBSV (@DBSV) August 8, 2024
Zur DBSV-Stellungsnahme: https://t.co/ey7QKRBv5s pic.twitter.com/n958qlquVP
E-Scooter sind wie Kinderspielzeug – „man fällt einfach“
Er fordert vor dem Landesgericht Bremen ein Schmerzensgeld. Doch das Gericht wies die Klage ab – der Anbieter habe keine seiner Pflichten verletzt, heißt es. Auch die Berufung vor dem Oberlandesgericht scheiterte. Schmerzensgeld bekam Bopp nicht. Und das, obwohl er wegen des Unfalls acht Monate verletzungsbedingt nicht arbeiten konnte.
Der Bremer empfindet die E-Scooter einerseits als unberechenbar, denn sie könnten überall und nirgends auftauchen. „Man kann sich nicht darauf einstellen“, sagt er. Andererseits seien die E-Scooter wie Kinderspielzeug, an dem man zufällig dran „vorbei pendelt“ mit dem Stock. „Es gibt keine Chance anzuhalten oder sich abzustützen. Man fällt einfach.“
Warum sie für blinde Menschen im Gegensatz zu Fahrrädern oder Bauzäunen schwer zu ertasten seien, „verstehen viele Leute nicht“, erklärt Bopp. Das habe das Gericht ebenfalls nicht verstanden.
Der Bundesverband der Rehabilitationslehrer für Blinde und Sehbehinderte erklärt es genauer: „Die Person, die den Langstock nutzt, pendelt vor dem Hindernis entlang. Da sich diese Person aber vorwärtsbewegt, wird die Seitwärtsbewegung des Stockes in die andere Pendelrichtung erst hinter dem Hindernis erfolgen.“ Bisher sei dies „die absolute Ausnahme“ im Alltag gewesen. Die E-Scooter veränderten jedoch das Stadtbild. Nicht nur für die Nutzer.
VdK fordert Parkzonen und Sanktionsmaßnahmen für Verweigerer
Ein Mittag in Berlin, auf dem kleinen Platz vor der VdK-Bundesgeschäftsstelle stehen rund ein Dutzend der bunten Elektro-Roller kreuz und quer herum. VdK-Chefin Verena Bentele tastet mit ihrem Stock den Raum vor sich ab, trifft einen der Scooter.
Bentele hat selbst eine Sehbehinderung. „Ich bin schon öfter über E-Scooter gestolpert. Es ist ein extrem gefährliches Hindernis für blinde Menschen“, sagt die Verbandspräsidentin. Passiert sei ihr bisher glücklicherweise nichts. „Ich bin bisher ein guter Stolperer.“ Personen, die aufgrund ihrer Einschränkung oder ihres Alters weniger reaktionsfähig seien, weniger Körperspannung aufbringen könnten, verletzen sich eher.
Die 42-Jährige ist unzufrieden damit, wie sich sich die Situation mit den Rollern entwickelt hat. „In Deutschland sind E-Scooter eingeführt worden ohne genaue Regeln, wo sie zum Beispiel geparkt und abgestellt werden dürfen.“ Selbst eine aktuelle Verordnung des Verkehrsministeriums zu Elektro-Kleinstfahrzeugen beinhalte keine entsprechende Regelung.
Bentele sieht die Verantwortung bei den Scooter-Fahrern: „Sie werden ja oft für Kurzstrecken von Menschen benutzt, die es sehr eilig haben“, erläutert die zwölffache Paralympics-Goldmedaillen-Gewinnerin: „Die machen sich dann offensichtlich zu wenig Gedanken darüber, dass es vielleicht nicht so schlau ist, den Roller mitten in der Einfahrt abzustellen.“
Ein weiteres Problem seien Raser. Da die Roller nicht sonderlich laut seien, komme es immer wieder zu Zusammenstößen mit Fußgängern und Radfahrern.
Die Forderung des Sozialverbandes: große Parkflächen, Kontrollen von Polizei und Ordnungsamt sowie höhere Bußgelder für Fehlverhalten. Zwar gebe es in Städten zunehmend Parkzonen, doch gerade im ländlicheren Bereich würden diese meist komplett fehlen, erklärt der Blinden- und Sehbehindertenverband.
„Ich brauche jetzt fast doppelt so lange zu Fuß“
Oftmals blockierten Scooter Zugänge zu S- und U-Bahnhöfen sowie Bushaltestellen und erschwerten den Weg zu Einzelhändlern und Geldautomaten, heißt es vom Sozialverband Vdk. Es sei erstaunlich, dass noch nichts Schlimmeres passiert ist, sagt Bopp: „Wenn jemand vor einem U-Bahn-Eingang über einen Roller stolpert und die Treppe herunterfällt“ – das möchte er sich nicht ausmalen.
Wie hat sich sein Leben seit dem Unfall verändert? „Was nicht mehr geht, ist schnell noch die Bahn zu kriegen. Das mache ich nicht mehr.“ Stattdessen bewege er sich nun langsamer: „Ich brauche jetzt fast doppelt so lange zu Fuß.“
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Und wenn alles nichts hilft: „Dann wäre ich für ein Verbot der E-Scooter“
Bentele sieht das Bundesverkehrsministerium in der Pflicht – und auch die Anbieter. Sie wüssten schließlich ganz genau, wer die Scooter benutzt und verkehrswidrig abstellt.
Letztlich stellt die Münchenerin den Nutzen von E-Scootern generell infrage: „Für die Mobilität stellen E-Scooter eher im Einzelfall einen Mehrwert dar.“ Viele Wege seien überflüssig, etwa zum Oktoberfest: „Von der U-Bahn-Station bis zur Wiesn, wenige Hundert Meter, werden haufenweise Leute wieder den E-Scooter nehmen.“ Die Strecke könnten die Besucher auch laufen, so ihr Fazit.
Ob Paris, wo die Leih-Roller aus dem Straßenbild verschwunden sind, ein Vorbild ist? Die VDK-Präsidentin wägt ab: „Wenn es keine Regelung gibt, die wirklich die Verkehrswege freihält und die Sicherheit gewährleistet, wenn der politische Wille fehlt: Dann wäre ich für ein Verbot.“
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