Düsseldorf. Das „Tatmittel Messer“ und radikale Einzeltäter besorgen NRW-Behörden schon länger. Bestätigt Solingen die düstersten Vorahnungen?

Das Beste hoffen, auf das Schlimmste gefasst sein – mit diesem schwierigen Gefühlsmix versieht Herbert Reul nun schon seit sieben Jahren sein Amt als NRW-Innenminister. Dieser Sommer 2024 hält für ihn seit Freitagabend um 21.45 Uhr jedoch eine besonders bittere Pointe bereit.

Die Ferien hatte Reul Mitte Juli extra wieder in Deutschland verbracht, um im Ernstfall schnell zurückkommen zu können. Ein wenig Fahrradfahren und Ausspannen mit seiner Frau in Ostdeutschland, das Handy immer griffbereit. Kaum wieder daheim in Leichlingen, den 72. Geburtstag am 31. August gut gelaunt vor Augen und allerhand Haushalts-Kleinklein auf dem Düsseldorfer Ministerschreibtisch, dann das Unfassbare. Eine Messer-Attacke. In Solingen. Keine zehn Kilometer von der eigenen Haustür entfernt.

Auch interessant

Auch wenn der Täter noch flüchtig ist und das Motiv unbekannt: Von einer „abstrakt hohen Anschlagsgefahr“ ist schon lange die Rede, doch wirklich konkrete Terrorszenarien gab es für Feste und neuralgische Punkte des öffentlichen Lebens zuletzt nicht. Dank der guten internationalen Geheimdienstzusammenarbeit wurden potenzielle Attentäter, die im Netz Spuren ihrer mörderischen Absichten hinterließen, immer rechtzeitig dingfest gemacht. Im Klartext: Etliche Anschläge konnten in der Vergangenheit nur deshalb verhindert werden, weil ausländische Geheimdienste Chatnachrichten abgefangen haben und der Bundesrepublik einen Warnhinweis gaben. Prominentestes Beispiel: Ein Ermittlungszufall verhinderte zum Jahreswechsel den Weihnachtsanschlag auf den Kölner Dom.

Solingen: NRW arbeitet gerade an weiteren Messer-Trageverboten

Und nun ein fröhliches Stadtfest der Vielfalt im beschaulichen Solingen. „Aus dem Nichts sticht einer mit dem Messer wahllos auf Menschen, bringt sie um. Warum, wieso, weshalb, das weiß noch keiner von uns“, sagt Reul, als er noch in der Nacht zum Samstag zum Tatort eilt. Nur so viel ist am Samstagmorgen sicher: Es war wieder das „Tatmittel Messer“, wie es im Polizei-Deutsch heißt.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), der nicht weit von Solingen enfernt wohnt, bei einem nächtlichen Statement am Tatort.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), der nicht weit von Solingen enfernt wohnt, bei einem nächtlichen Statement am Tatort. © dpa | Thomas Banneyer

Im Nachhinein wirkt es fast wie eine dunkle Vorahnung, dass Reul gerade an einer weiteren Präventionsstrategie gegen Messergewalt arbeiten lässt. Sie sollte im September vorgestellt werden. Die jüngsten Berichte aus den Polizeidienststellen konnten ihn nicht ruhen lassen. Zuletzt musste das Innenministerium eine dramatische Entwicklung bei Messerstraftaten in NRW bilanzieren. Demnach war die Zahl der Messerattacken 2023 gegenüber dem Vorjahr um fast 50 Prozent gestiegen. Die fast 5700 ermittelten Tatverdächtigen waren mehrheitlich jung, männlich und hatten überproportional häufig Migrationshintergrund.

Reul hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er generelle Messerverbote in der Öffentlichkeit, wie sie im Bund diskutiert werden, für wenig zielgerichtet und schwer durchsetzbar hält. Stattdessen hat er darauf hingewiesen, dass das Messer nur in falschen Händen zur gefährlichen Waffe werde und man eine ganz bestimmte Klientel im Blick haben müsse.

Radikalisierung von Einzeltätern stellt NRW-Behörden vor Problem

Seit geraumer Zeit erprobt NRW gezielte Waffentrageverbote für polizeibekannte Gewalttäter. Die Verbotsverfügungen müssen persönlich durch Polizisten überreicht und möglichst mit einer Gefährderansprache verbunden werden. Insbesondere bei Jugendlichen und Heranwachsenden würden Erziehungsberechtigte und Jugendkontaktbeamte eingebunden, so das Innenministerium zuletzt.

Man erhofft sich gerade bei Heranwachsenden einen Präventionseffekt. „Vor allem durch die persönliche Ansprache und das Aufzeigen von Konsequenzen wird von einer hohen präventiven Wirkung ausgegangen“, erklärte Reul vor einigen Wochen gegenüber dem Landtag.

Das Polizeipräsidium Dortmund hatte als erste Behörde in NRW mit einer eigenen Task-Force insgesamt 433 potenzielle Gewalttäter identifiziert, die für ein Waffentrageverbot in Frage kommen, darunter allein 131 unter 21 Jahren. Reul hatte Waffentrageverbote als „flankierende Maßnahme“ vorgestellt, um der wachsenden Messergefahr in NRW zu begegnen. Anders als in den landesweit vier „Waffenverbotszonen“ etwa in der Düsseldorfer Altstadt oder an Feier-Hotspots in Köln, in denen die Polizei größere Kontrollbefugnisse hat, werden Waffentrageverbote für den gesamten öffentlichen Raum individuell gegen potenziell gefährliche Personen ausgesprochen.

Sticht ein Gewalttäter oder Terrorist jedoch zu, den die Behörden vorher gar nicht kannten, bleiben Messertrageverbote wirkungslos. Auch wenn es im Solinger Fall am Samstagmorgen zunächst nur vage Zeugenaussagen gab, der Täter habe Arabisch gesprochen und das Motiv „Islamismus“ einstweilen völlig unklar blieb, stehen die Sicherheitsbehörden schon länger vor dem Problem, dass sich eine Radikalisierung von Einzelpersonen immer häufiger ansatzlos vollzieht.

Reul nannte Handy schon „Radikalisierungsmaschine in der Hosentasche“

Aktuell sind in NRW rund 2600 extremistische Salafisten nachrichtendienstlich bekannt, davon 600 dem gewaltorientierten Spektrum zuzuordnen. Vor allem in den Ballungsräumen der Rheinschiene um Köln und Bonn sowie Düsseldorf und Mönchengladbach oder im Ruhrgebiet zwischen Dortmund und Essen sind sie vernetzt. Es gibt eine Vielzahl an radikalen Organisationen und Vereinen.

Anders als noch vor wenigen Jahren stehen in der direkten Beobachtung nicht mehr allein die NRW-weit rund 14 islamistisch beeinflussten Moscheen im Fokus der Verfassungsschützer. Gefährlicher erscheinen längst Einzeltäter ohne Anbindung an Terrorgruppen, die sich durch Online-Inhalte radikalisieren und kaum zu erfassen sind. Vor allem Jugendliche werden von populären Predigern rund um die Uhr über die Sozialen Netzwerke geködert.

Im Stile von Influencern wird heute nicht theologisch argumentiert, sondern sehr lebensnah in Umgangssprache. Das Narrativ einer angeblich allgemeinen Ungerechtigkeit des Westens gegenüber dem Islam findet in bestimmten Milieus einen Resonanzboden. Das Netz sei mehr und mehr „ein Hochleistungsmotor für Radikalisierung“ – so hat es Reul mal formuliert. Das Handy sei „die Radikalisierungsmaschine in der Hosentasche“.

Messerangriff in Solingen - Mehr zum Thema: