Berlin. Die Kursk-Offensive hält an. Nach einer Woche lichtet sich der Nebel des Krieges etwas. Was wir bisher wissen – und was noch unklar ist.

Eine Woche hält die ukrainische Offensive in der westrussischen Region Kursk an. Die meisten Informationen über den Überraschungsangriff kommen bislang aus Russland, oft auch die besten. Das dürfte sich ändern. Kremlchef Wladimir Putin hat vor laufenden Kameras Staatsvertreter für Äußerungen über den Vorstoß kritisiert, allen voran den Gouverneur der Region Kursk, Alexei Smirnow. Er soll sich nun nur noch zu sozialen Fragen äußern. Der Vorstoß selbst hingegen wird heruntergespielt.

Die Ukraine verfolgt mit ihrem Angriff auf Russland mutmaßlich vier Ziele:

  • eine bessere Ausgangslage für spätere Verhandlungen
  • die Russen zu zwingen, Truppen von der Front abzuziehen
  • Unsicherheit in Russland zu schüren
  • die eigene Moral zu stärken

Zwei Ziele hat sie erreicht. Erstens, der Vorstoß deckte Russlands Schwächen auf: eine Großmacht, die auch nach einer Woche nicht die volle Kontrolle über ihr Staatsgebiet hat. Die Grenze – schlecht geschützt. Die Truppen – überrumpelt. Putin hat viele Rückschläge hinnehmen müssen, beim Sturm auf Kiew, in Charkiw und Cherson. Das Scheitern im eigenen Land ist nun besonders bitter.

Der Schlag gegen Putins Autorität ist zweitens umgekehrt in Kiew für Präsident Wolodymyr Selenskyj die erste Erfolgsmeldung seit Langen. Die Offensive ist ein Stimmungsaufheller im ganzen Land. Sie ist entscheidend für die Kampfmoral.

In this pool photograph distributed by Russian state owned agency Sputnik, Russia's President Vladimir Putin chairs a meeting regarding the situation in the Kursk region, in his residence in Novo-Ogaryovo outside Moscow, on August 12, 2024. The governor of Russia's Kursk region where Ukraine has launched an incursion told Russian President Vladimir Putin that 28 settlements with a population of around 2,000 people are controlled by Ukrainian troops on August 12, 2024. (Photo by Gavriil GRIGOROV / POOL / AFP) / Editor's note : this image is distributed by Russian state owned agency Sputnik
Kremlchef Wladimir Putin spielt den Vorstoß herunter und tröstet sich damit, dass seine Truppen in der Ukraine selbst weiter Bodengewinne machen. © AFP | Gavriil Grigorov

Aber an der Front in der Ostukraine gibt es keine Entlastung. Dort steht die Ukraine nach Einschätzung des „Institute für the Study of War“ unverändert unter Druck. Noch gibt es auch keine Verhandlungen, Putins Position hat sich zunächst eher verhärtet. Um einen Verhandlungsvorteil aus der Kampagne zu ziehen, müssten die ukrainische Armee erst einmal die eroberten Gebiete halten.

Auch interessant: Ukraine-Krieg: Woran Friedensgespräche mit Putin scheiterten

Kursk-Vorstoß: Kann die Ukraine die Gebietsgewinne halten?

Die finnische Analystengruppe „Black Bird“ schreibt, dass die Ukrainer ihre Positionen festigen. Ukrainische Truppen hätten auch einen von Panzern unterstützten Vorstoß auf Belgorod unternommen. Sie sind gekommen, um zu bleiben. Ob ihnen das gelingt, ist eine wichtige, aber offene Frage. Die Antwort hängt davon ab, wie viele Einheiten sie noch einsetzen wollen. Wie viel Risiko wollen sie eingehen?

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Sie haben dem Gegner empfindliche Verluste zugefügt. Noch kann niemand das Ausmaß der Zerstörungen genau quantifizieren. Die Bilder der Zerstörung, etwa aus der „New York Times“, lassen vermuten, dass viele russische Soldaten gefallen, verwundet oder gefangen genommen wurden. Ihre Stellungen waren zwar geschützt, aber nicht auf Panzer- und Artillerieangriffe vorbereitet.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Parallel dazu hat die Ukraine einen kombinierten Raketen- und Luftangriff auf den Luftwaffenstützpunkt in Kursk und auf eine Einrichtung der Marineinfanterie verübt. Außerdem hat sie eine Gasmessstation unter ihrer Kontrolle gebracht. Der russische Energieriese Gazprom führt den jüngsten Preisanstieg ausdrücklich darauf zurück.

Lesen Sie dazu: Gasstation erobert? Ukraine kann Putins Geldquellen treffen

Generaloberst Olexander Syrskyj
Generaloberst Olexander Syrskyj, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte: Geheimhaltung und Überraschungseffekt sprechen für seine Operation. © DPA Images | Ukrainisches Präsidentialamt

Laut Kursk-Gouverneur Alexei Smirnow „stehen 28 Siedlungen unter feindlicher Kontrolle“. Die Eindringtiefe betrage zwölf Kilometer, die Breite der Front 40 Kilometer. Kein Wunder, dass Putin ihm zum Schweigen verdonnert hat. Der am weitesten entfernte Punkt des ukrainischen Vormarsches scheint die Stadt Obshchy Kolodez etwa 30 Kilometer nördlich der Grenze zu sein.

Erfolgsfaktor beim Überraschungsangriff der Ukraine: die Geheimhaltung

Der ukrainische Armeechef General Oleksandr Syrskiy teilte mit, dass seine Truppen fast 1.000 Quadratkilometer eingenommen hätten. Ein Video davon postete er auf Selenskyjs Telegrammkanal. Selenskyj selbst sprach von einer reinen Sicherheitsfrage für die Ukraine, „nämlich um die Befreiung des Grenzgebiets vom russischen Militär“.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Natürlich hat auch die Ukraine schwere Verluste hinnehmen müssen. Davon zeugen Bilder und Videos von zerstörten Fahrzeugen. Und was ein Reporter vom britischen „Economist“ in einem Krankenhaus im ukrainischen Oblast Sumy sah, ließ ihn mutmaßen, dass die Zahl der Opfer groß ist und zunimmt.

Auch die Ukraine muss viele Verluste in Kauf nehmen.
Auch die Ukraine muss viele Verluste in Kauf nehmen. © AFP | Anatoliy Zhdanov

Nach einer Woche kann man besser rekonstruieren, wie die Ukrainer vorgegangen sind. Zunächst räumten sie Minenfelder frei, dann durchbrachen gepanzerte Fahrzeuge die Verteidigungslinien. Danach kamen sie auf den Straßen schnell voran. Da die Landschaft hügelig ist, hatten die Russen es schwer, abseits der Straßen zu ihnen vorzustoßen. Die Ukrainer waren im Vorteil.

Ein Wendepunkt im Ukraine-Krieg

Eigentlich ist das Gefechtsfeld transparent, weil Drohnen es tausendfach in Echtzeit überwachen. Überraschungen sind kaum möglich. Wie haben die Ukrainer das gemacht? Offensichtlich verbargen sie ihre Waffen in den Wäldern, jetzt im Sommer ist das Laub dicht. Die Soldaten wurden verteilt und schliefen in verlassenen Häusern. Ein stellvertretender ukrainischer Brigadekommandeur sagte der „New York Times“, die höheren Offiziere seien über die Offensive drei Tage vorher informiert worden, die einfachen Soldaten am Vorabend. Die Geheimhaltung und der Überraschungsmoment waren die Schüssel zum Erfolg.

Was im Nebel des Krieges nicht ersichtlich ist: das Ausmaß der Operation und die Risikobereitschaft der Ukraine. Erste westliche Experten sprechen schon – als worst case szenario – vom Anfang vom militärischen Ende der Ukraine, weil sie befürchten, dass die Truppen ihnen an der eigentlichen Front fehlen werden und weil sich die westlichen Staaten nach diesem Abenteuer abwenden könnten. Der Angriff könnte sich als Wendepunkt im Ukraine-Krieg herausstellen. Allein, zu wessen Gunsten?

Lesen Sie auch: Ukraine-Offensive: Experte schockiert mit düsterem Szenario