London. Das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps, die Zahl der Obdachlosen steigt – und nun drohen in britischen Gefängnissen Krawalle.
Nach der rechtsextremen Gewaltwelle auf Großbritanniens Straßen wird nun groß aufgeräumt. Die Regierung greift durch. In Schnellverfahren urteilen Richter quer durch das Land Täter und Mittäter ab. Der neue Premier Keir Starmer hofft, dass wieder Ruhe einkehrt. Er ist ein schweres Erbe angetreten. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg habe eine neue Regierung das Land in einem so desolaten Zustand übernommen wie Labour in diesem Jahr, sagte der Premier.
„Schockierend“ sei der Zustand der britischen Wirtschaft, stimmte Gesundheitsminister Wes Streeting ein. Und die Finanzministerin Rachel Reeves lieferte zuletzt auch eine konkrete Zahl zu den Hiobsbotschaften: In den öffentlichen Finanzen klaffe ein Loch von 22 Milliarden Pfund – umgerechnet etwa 25,7 Milliarden Euro. „Die Tory-Regierung hat Geld ausgegeben, als ob es kein Morgen gäbe, weil sie wusste, dass jemand anders dafür bezahlen muss“, sagte sie.
Lesen Sie auch: Alarmierende Studie – Armut schrumpft britische Kinder
Dass Großbritanniens Wirtschaft mit schweren Problemen hadert, ist seit längerer Zeit bekannt. „Broken Britain“ hat sich als geflügelte Phrase verbreitet. Für das „schwarze Loch“ in den Kassen sind laut Reeves eine Reihe von Faktoren verantwortlich – darunter die Inflation, der Krieg in der Ukraine, sowie eine schluderige Buchhaltung mancher Ministerien. Und auch wenn der Staat Geld ausgegeben hat, ist es offenbar nicht dort gelandet, wo es gebraucht wird – dafür gibt es unendlich viele Beispiele.
Großbritannien kämpft gegen akuten Mangel an Ärzten
Eines ist der staatliche Gesundheitsdienst NHS. Die Ressourcen sind so knapp, dass derzeit 7,6 Millionen Menschen auf eine medizinische Behandlung warten. Es herrscht ein akuter Mangel an Ärzten und Fachkräften – das hat zur Folge, dass der Rückstau kaum abgebaut werden kann. Manche Patientinnen und Patienten sind so verzweifelt, dass sie Tausende Pfund ausgeben, um sich privat behandeln zu lassen, weil sie Sorge haben, dass sie ihre Gesundheit gefährden, wenn sie es nicht tun.
Deshalb blüht inmitten der NHS-Misere der private Gesundheitsmarkt. Viele Krankenhäuser sind zudem in einem erbärmlichen baulichen Zustand. Statistiken zeigen, dass der Krankenhausbetrieb in England jede Woche mehr als 100-mal gestört wird – durch Feuer, Wasserschäden oder wegen „Versagen der Infrastruktur.“
In einer ebenso schlimmen Verfassung sind die Gefängnisse. Im Jahr 2024 befinden sie sich in einem „state of emergency“ – einem Notzustand, schrieb der Thinktank Institute for Government kürzlich. Sie sind hoffnungslos überfüllt, es gibt zu wenig Wärter, und die Gewalt unter den Insassen hat zugenommen, darunter auch Fälle von schwerer Körperverletzung. Auch Selbstverletzung und Suizid sind in den vergangenen Jahren häufiger geworden.
Schlechter Straßenbelag sorgt für 27.000 Pannen pro Jahr
Die Krise in den Gefängnissen ist jedoch nicht auf eine Zunahme der Kriminalität zurückzuführen: In den vergangenen 30 Jahren ist die Kriminalitätsrate deutlich zurückgegangen – dennoch hat sich die Zahl der Häftlinge in der Zeit verdoppelt. Ausschlaggebend sind längere Strafen sowie die fehlende Kapazität im Justizsystem: Viele Insassen sind für längere Zeit in Untersuchungshaft, weil die überforderten Gerichte so lange brauchen, um sie zu verurteilen. Wegen der Überbelegung nimmt das Risiko von Krawallen zu.
Augenfällig werden die Probleme buchstäblich auch auf den Straßen: Sie sind mit Schlaglöchern übersät. Auch dies ist ein Teil der Infrastruktur, der schwer vernachlässigt worden ist und zunehmend Zerfallserscheinungen zeigt. Im März meldete die RAC, eine britische Autopannen- und Versicherungsfirma, dass sie in den vorangehenden zwölf Monaten mehr als 27.000 Mal wegen Pannen gerufen wurde, für die schlechter Straßenbelag verantwortlich war – ein Anstieg von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die britischen Straßen seien in einem „miserablen Zustand“, so die RAC. Der Rechnungshof National Audit Office erklärt: Insbesondere die Qualität der Lokalstraßen verschlechtere sich laufend, und es gebe einen immer größeren Rückstau an Reparaturarbeiten.
In London steigt Zahl der Obdachlosen auf 10-Jahres-Hoch
Hinzu kommt eine andere Krise, die eine zunehmende Zahl von Briten betrifft: teurer und knapper Wohnraum. In den letzten drei Monaten des Jahres 2023 stieg die Zahl der wohnungslosen Haushalte um 16 Prozent an, auf insgesamt 45.000. Viele müssen in temporärer Behausung unterkommen, andere schlafen auf der Straße. In London, so schätzen Kampagnen, sind fast 8000 Menschen obdachlos – so viele wie zuletzt vor zehn Jahren. Für diesen Notstand machen viele Briten nicht zuletzt die Wohnungspolitik der Tory-Regierungen verantwortlich.
„Jahrzehntelang wurde der Bau von erschwinglichem Wohnraum vernachlässigt”, sagte Polly Neate von der Wohnstiftung Shelter. Das habe dazu geführt, dass Familien Mühe hätten, die exorbitanten Geldsummen anzusparen, um sich ein Dach über dem Kopf zu kaufen. Laut Rechnungshof ist der durchschnittliche Preis einer Immobilie in Großbritannien von knapp 168.000 Pfund im Jahr 2013 auf 290.000 Pfund zehn Jahre später gestiegen – ein Anstieg von mehr als 70 Prozent. Die steigenden Zinsen in den vergangenen zwei Jahren haben zudem Hypotheken für viele unerschwinglich gemacht, auch für Leute aus der Mittelschicht.
Starmer und seine Labour-Regierung kennen die Probleme, auch wenn sie das Loch in der Kasse vielleicht unterschätzt haben. Der Premier versprach, das Land „wiederaufzubauen“. Und es gibt kleine Lichtblicke. Der langwierige Streik der Assistenzärzte wurde mit einer ansehnlichen Lohnerhöhung beendet. Das wird den NHS nicht retten, aber helfen, mehr Fachkräfte zu rekrutieren. Eine Reform des Baurechts steht auf der Agenda, die den Hausbau ankurbeln soll. Um den Druck aus den Gefängnissen zu nehmen, plant Labour offenbar, einige Straftäter frühzeitig zu entlassen – was allerdings nicht überall gut ankommt.
Mehr zum Thema: Warum sich in Großbritannien der „Brexit-Kater“ breitmacht