Berlin. Zum zweiten Mal nach dem Wagner-Aufstand offenbart Russland seine Verwundbarkeit. Doch die Ukraine könnte einen hohen Preis zahlen.
Auch fast eine Woche nach dem Beginn der ukrainischen Offensive in der russischen Region Kursk sind die strategischen und operativen Ziele unklar. Mit dürren Worten räumt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lediglich ein, dass es diese Offensive gibt, der ukrainische Generalstab schweigt. Der Nachrichtenfluss ist spärlich und wird vor allem durch russische Quellen gespeist.
Auf russischer Seite schwankt die Stimmungslage. Auf der einen Seite herrscht Entsetzen über den ukrainischen Vormarsch. Der hat sich zwar in den vergangenen Tagen verzögert, konnte aber keineswegs gestoppt werden. Auf der anderen Seite wächst die Wut auf die eigene militärische Führung, die nicht willens oder in der Lage war, das russische Kernland gegen diese Offensive zu schützen. Hunderte Quadratkilometer sind nun ukrainisch besetzt, Zehntausende Menschen mussten vor den Kämpfen in Sicherheit gebracht werden. Den Menschen in Russland wird nun schmerzhaft vor Augen geführt, was Krieg bedeutet.
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Wie dünn die Nervenkostüme im Kreml derzeit gestrickt sind, zeigt die Ausrufung von Anti-Terror-Maßnahmen in den Regionen Belgorod, Brjansk und Kursk. Einen solchen Schritt, der vor allem dem Inlandsgeheimdienst FSB mehr Befugnisse einräumt, gab es zuletzt beim Vormarsch der Truppen des Wagner-Führers Jewgeni Prigoschin im Juni des vergangenen Jahres.
Offensive in Kursk soll wohl auch Truppen an der Front entlasten
Die Operation wird aber nicht nur den Zweck haben, Angst, Schrecken und Verwirrung in Russland zu verbreiten oder ein Gebiets-Faustpfand für künftige Verhandlungen zu haben. Wahrscheinlich soll die russische Militärführung gezwungen werden, Einheiten aus anderen Frontabschnitten abzuziehen, um die dort kämpfenden ukrainischen Truppen zu entlasten.
Insbesondere an der Donezk-Front im Osten stehen die Ukrainer unter massivem Druck, die Russen stoßen dort vergleichsweise schnell auf die 60.000-Einwohner-Stadt Pokrowsk vor, die ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt ist. Das Kalkül könnte sein, dass der russischen Führung die Verteidigung ihres Kernlandes wichtiger ist als die weitere Eroberung ukrainischem Territoriums – selbst wenn es um Gebiete geht, die Wladimir Putin im Herbst 2022 völkerrechtswidrig annektiert hat.
Tatsächlich gibt es Berichte, wonach das russische Militär Truppen abgezogen hat, die Cherson und Saporischschja im Süden, Pokrowsk, Luhansk und Kupjansk im Osten sowie Charkiw im Nordosten bedroht haben. Die Kampfhandlungen an diesen Frontabschnitten sollen jetzt deutlich zurückgegangen sein. Wenn es der Ukraine gelingt, sich wegen der Offensive im Raum Kursk an den anderen Frontabschnitten zu konsolidieren, wäre das ein militärischer Erfolg.
Russland zeigt ein zweites Mal nach Wagner-Aufstand Schwäche
Möglicherweise liegen aber auch noch nicht alle Karten auf dem Tisch. Soldaten an der Front sprachen vor zwei Wochen vor großen Überraschungen, auf die man sich einstellen solle. Manche Beobachter rechnen mit weiteren ukrainischen Angriffsoperationen. Andererseits werden die Russen alles tun, um diese Scharte auszuwetzen. Putin hat jetzt bereits zum zweiten Mal nach dem überraschenden Wagner-Marsch Richtung Moskau im vergangenen Jahr Schwäche gezeigt.
Die Antwort des russischen Militärs wird also vermutlich heftig ausfallen – vorausgesetzt, es verfügt überhaupt noch über entsprechende Kapazitäten, woran immer mehr Analysten Zweifel anmelden. Für die Ukrainer ist die Operation hochriskant. Sie setzen modernstes westliches Kriegsgerät und gut ausgebildete Einheiten ein. Gehen diese Einheiten im Feuer der russischen Luftwaffe unter, wäre das ein militärisches Fiasko, egal, welche Frontabschnitte entlastet werden.
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