Bornhagen/Mühlhausen. Zwischen Bratwurstliebe und Fremdenhass: Wer durch Thüringen tourt, spürt den Widerspruch an allen Ecken. Unser Kolumnist berichtet.

Eine Traumimmobilie, am Fuße der Burg Hanstein. Zwölf Zimmer, Blick bis nach Hessen und Niedersachsen, Schieferschindeln, der Quadratmeter deutlich unter tausend Euro. Das alte Schulhaus in Bornhagen ist der Traum gestresster Städter. Und die Nachbarn? „Da weiß ich gar nichts Genaues“, sagt der Makler. In der Welt taumeln die Börsen, in Bornhagen wummert der Nachbar mit verspiegelter Pilotenbrille im roten Cabrio an der Friedenskirche vorbei – dort, wo sich Wurststraße, Jakobsweg und ehemalige deutsch-deutsche Grenze begegnen.

Hier im westlichsten Thüringen gibt es weder Wind- noch Lastenräder, wenige Jobs und so viele braune Nacktschnecken wie überall im Land. Erfurt ist weit, Berlin ein anderes Universum. Nur Bornhagen ist wie immer und erträgt stoisch den Zugezogenen aus dem Westen mit seinen 9000 Euro netto im Monat. „Ach ja, stimmt, der Höcke“, sagt der Makler. Fast vergessen. Deutschlands Lieblingsdämon scheint kein gutes Standortargument zu sein.

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Björn Höcke hat vor gut zehn Jahren das hessische Bad Sooden-Allendorf verlassen, die Werra überschritten und sich im Eichsfeld niedergelassen, um Thüringen zu erobern. Doch die Machtübernahme stockt. Hier zählt Katholischsein noch was, das Direktmandat geht sicher an die Christenpartei. Höckes Wahlkreis liegt drei, vier Cabriostunden östlich in Greiz. Koalieren CDU und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), landet Höcke wieder in der Opposition, dann könnte der AfD aufgehen, dass zu viel Nazi-Kult nicht Lösung, sondern Problem ist.

„Wir in Thüringen wissen gar nicht, wie schön wir’s haben“

Ach ja, der Höcke. Von Argentinien aus gesehen verliert der Bornhagener viel von seinem Schrecken. „Natürlich ist die AfD für die Demokratie eine Herausforderung und im Alltag eine Zumutung für viele. Aber 70 Prozent der Menschen wählen nicht rechtsextremistisch.“ Das sagt Max Welch Guerra (68), ein Thüringen-Fan. Der Professor stellt gerade in Buenos Aires sein Buch über Diktaturen und Stadtplanung vor, das vor allem in Weimar entstanden ist. Fürchtet sich ein gebürtiger Chilene vor der baldigen Remigration?

Hajo Schumacher auf Tour in Thüringen
Hajo Schumacher mit Andy, 57, im Bratwurstmuseum in Mühlhausen. © Hajo Schumacher | Hajo Schumacher

Welch Guerra lacht. „Wohin denn? Ich bin seit vierzig Jahren Bundesbürger. Manchmal fragst du dich, was wir in Thüringen verbrochen haben, dass eine Partei so etwas überhaupt auszusprechen wagt.“ Was den Professor schmerzt, ist die reduzierte politische Debatte, die wenig Platz für Zukunftsfragen lässt. „Wir in Thüringen wissen gar nicht, wie schön wir’s haben, welche Chancen dieses Land bietet. Darüber müssen wir endlich reden.“

Welch Guerra ist Herzensthüringer, seit er im Februar 1989 als erster Gaststudent aus dem Westen ans Bauhaus kam, wo er bis heute lehrt, forscht und schwärmt. „Eine vielfältige Alltagskultur mit ihren Festen, intakte Natur, kein Overtourism, vielfältige Universitäten ohne Massenstudiengänge, aber mit Blick nach Osteuropa, dazu der verantwortungsvolle Umgang mit den höchsten und schlimmsten Seiten der Geschichte – mehr Deutschland als Thüringen geht nicht.“

Thüringen ist wie Deutschland – höchst widersprüchlich

Halb so viele Einwohner wie Berlin, eingeklemmt zwischen Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Sachsen, ein nervöser Grenzverlauf, den kaum ein Bundesbürger aufmalen könnte. Und zugleich ein Landstrich, der mehr deutsche Geschichte erlebt hat als Bayern und Mecklenburg zusammen: Hier definierte Luther die deutsche Sprache, hier schufen Goethe, Schiller, Bach, Cranach, Gropius Kulturgut, hier wurde Sahra Wagenknecht geboren, von hier aus marodierte der NSU, hier herrscht der einzige linke Ministerpräsident. Thüringen ist wie Deutschland – höchst widersprüchlich.

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Heilbad Heiligenstadt. Das erste Elektroauto. Vor der Lungenklinik rauchen auf den Rollator gestützte Patienten die letzten Zigaretten. Radtouristen fahren verkehrt herum durch die Einbahnstraße, so wie sie es aus der Großstadt gewohnt sind. Milde schütteln die Einheimischen den Kopf. In der Wilhelmstraße reihen sich die Wahlkreisbüros von Höcke und der SPD, Hotel und asiatischer Ein-Euro-Laden. Multikulti. Ein paar Kilometer außerhalb auf einem Hügel liegt der Mittelpunkt Deutschlands, also einer davon. „Alles okay?“, fragen die Männer von der Straßenaufsicht und betrachten sorgenvoll den Verschwitzten, der sein Rad durch die Mittagshitze wuchtet. Kein Mensch am Mittelpunkt, genau so wenig wie später an der Unstrutquelle. Thüringen – randvoll und leer zugleich.

Wurst. Da sind sich eingefleischte Thüringer einig. Wurst ist ihr Markenzeichen, ein Qualitätsprodukt von Weltruf und wie die Einheimischen selbst: Es gibt sie in unzähligen Variationen, mit Kalb oder Schwein, grob oder fein, mit Majoran oder Kümmel. Achtung, provozierende Frage: Ist es ein Zeichen von Stärke oder von Schwäche, wenn man die eigene Identität mit einem – sorry – Allerweltsprodukt definiert?

Zum Weltwursttag wird der Bratwurstsong 2024 gekürt

Vor den Toren der schmucken Fachwerkstadt Mühlhausen, gleich neben dem Fachbetrieb für Solarmodule und Wärmepumpen, hübscht sich das Deutsche Bratwurstmuseum auf. Die neue Attraktion, eine begehbare Bratwurst, ist noch nicht fertig. Am 16. August ist Weltwursttag, dann wird der Bratwurstsong 2024 gekürt. Favorit ist das Duo „Graue Gesellen“ mit Bassistin Erika (84) und Walter (94) am Keyboard. Beide tragen selbstgehäkelte Wurstmützen.

Hajo Schumacher auf Tour in Thüringen
Katharina Schoett ist Chefärztin in der Ökumenischen Hainich Klinik in Mühlhausen. © Hajo Schumacher

„Spendierste mir’n Bier?“ Andy grinst durch drei alleinstehende Schneidezähne. Andy (57) schnürt zwischen Tagestouristen und Spielplätzen und Wurstskulpturen und Schweinekoben umher auf der Suche nach einer Mittrinkgelegenheit. Er lebt auf der Straße, immer schon. Gesamtsituation? „Scheiße.“ Vermisst er die DDR? „Nee, da hamse solche wie mich eingesperrt.“ Und Mühlhausen so? Gutes Pflaster? „Paah.“ Andy spuckt aus. Das Obdachlosenheim ist schmuddelig, zu viele Asoziale, alles Deutsche übrigens. Andy zeltet mit seinen Kumpels im Stadtwald. In den Ort geht er nur, um Bürgergeld abzuholen. Wurst gefällig? „Nee, lieber noch´n Bier.“

Einen Spaziergang vom Wurstmekka entfernt liegt das Ökumenische Hainich-Klinikum. Kaugummi gegen den Bierdunst. Chefärztin Katharina Schoett lädt zum Kaffee in die Suchtambulanz, mitten in einem großartigen Park gelegen. Schöner geht Entgiften kaum. Im Bratwurstmuseum war die Psychotherapeutin noch nie. Vegetarierin. Seit einem Vierteljahrhundert arbeitet Dr. Schoett in der größten Suchtklinik Mitteldeutschlands; sie hat jede Droge miterlebt. Zum ewigen Alkohol gesellten sich Heroin, Kokain, das Pferdenarkotikum Ketamin, GLB, auch als K.o.-Tropfen oder Graffiti-Entferner bekannt, und jetzt Crystal Meth, das billiger als Kokain dem Ego aufhilft, Hunger und Müdigkeit vertreibt. Seit Corona sind die „Patienten noch kaputter und deutlich jünger, manche erst 12.“

Die größte Sorge der Suchtärztin ist die Droge Fentanyl

Ist Thüringen tatsächlich das Bundesland mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Crystal Meth? Die Werte des Erfurter Abwassers liegen rekordverdächtig hoch. Und was die täglich neuen Patienten berichten, fügt sich ebenfalls zu einem düsteren Bild. „Jedes Dorf in Thüringen hat einen Kontakt zur Szene“, weiß Dr. Schoett (52). Und jede Gegend hat ihren Stoff. Oft kann sie an der Postleitzahl ablesen, was der Mensch im Blut hat. Es sind die Abgehängten, Hoffnungslosen, Gekränkten, die in der Welt da draußen nicht mithalten. Inzwischen ist die zweite Generation herangewachsen. Manche Kinder von Süchtigen kennen kein Leben ohne Stoff.

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Weil Wahlkampf ist, lässt sich der Drogenbeauftragte der Bundesregierung bald blicken. Dr. Schoett hofft, dass neben dem Posieren fürs Foto etwas Zeit bleibt, ihre größte Sorge mitzuteilen: Fentanyl, fünfzigmal stärker als Heroin. Das Zeug hat Schneisen des Todes durch die USA geschlagen. „Menschen sterben dir unter den Händen weg ohne die richtigen Medikamente.“ Auch bei Drogen wirkt die Globalisierung. Seit die Taliban in Afghanistan den Mohnanbau verboten und damit den Heroinmarkt erledigt haben, wächst die Nachfrage nach dem synthetischen Opiat Fentanyl.

Und die Wellen kommen schnell. 2010 hatte Katharina Schoett keine 20 Crystal-Süchtigen, zwei Jahre später 400. Weil der studienversessene Minister Karl Lauterbach bislang nur eine mangelhafte Untersuchung vorliegen hat, wird die Klinik die richtigen Medikamente nicht bieten können. Und jetzt? Holt sie sich Rat bei fentanylerfahrenen Kollegen aus Kalifornien.

Warum tut sie sich den Job all die Jahre an? Wortlos zieht Katharina Schoett eine Grafik hervor. Ein Patient, der sich aufgegeben hatte, hat mit roten Kreuzen die letzten tausend Tage dokumentiert, in denen er der Sucht widerstand. Jetzt ist er in Arbeit. „Deswegen“, sagt sie. Und weil diese Klinik ein absoluter Glücksfall sei, mit all diesen Freiheiten, die man nirgendwo sonst in Deutschland habe. Unlängst hatte sie die Idee, eine Akademie zu gründen, damit die über tausend Mitarbeitenden nicht ewig lange auf Fortbildungen unterwegs sind. Inzwischen läuft die Akademie höchst erfolgreich. „Die Menschen hier wissen oft gar nicht, welche Chancen Thüringen bietet.“ Sagt Professor Welch Guerra auch. Muss was dran sein.