Ketrzyn. Vor 80 Jahren versuchte Graf Stauffenberg, im „Führerhauptquartier“ Adolf Hitler zu töten und den Krieg zu beenden. Ein Ortsbesuch.

Zu dieser Sommerzeit leuchten die Mischwälder an der masurischen Seenplatte in einer unendlichen Vielfalt von Grüntönen. Tiefdunkel und dicht bis lichthell und zart. Wir sind unterwegs auf zwei Motorrädern und von Hamburg über Berlin, Gdansk (Danzig) und Olsztyn (Allenstein) schon viele Kilometer durch diese wunderbare, sich immer wieder verändernde Landschaft gefahren. Oft sind es kleine einsame, zugewachsene und holprige Straßen, die uns fast im Grün verschlucken. An vielen Biegungen erleben wir überraschende Ausblicke auf Seen, mächtige Kirchen, restaurierte Dörfer und überall Störche in ihren Nestern. Doch bei Ketrzyn (Rastenburg) wartet im dichten Wald dann plötzlich ein sehr gruseliger Ort. Er ist schwer zu fassen und zu begreifen: die Wolfsschanze. Das wohl bedeutendste von Adolf Hitlers „Führerhauptquartieren“.  

Die Wolfsschanze: 47 teilweise riesige Bunker wurden im tiefen Wald versteckt

Von hier aus steuerte er den Überfall auf die Sowjetunion, von hier aus gab er seine Vernichtungsbefehle und hier sollte er nach dem Willen der Widerstandsgruppe um Oberst Claus Schenk Graf Stauffenberg auch sterben. Vor 80 Jahren zündete dieser am 20. Juli 1944 bei einem Treffen mit Hitler die Bombe, die zwar detonierte, aber Hitler leider nicht tödlich traf. Statt, wie erhofft, den Krieg und das millionenfache Sterben zu beenden, löste das gescheiterte Attentat eine brutale Säuberungsaktion des NS-Regimes aus, bei dem es etwa 200 Menschen hinrichten ließ. Darunter auch Oberst Graf Stauffenberg. 

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Der Wald um den neun Kilometer entfernten Ort Ketrzyn (Rastenburg), der das geheime Hauptquartier perfekt tarnen sollte, wird die Ruinen dieser Vernichtungsmaschinerie nun nicht mehr freigeben. 47 Bunker, 40 Wohn-, Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude, ein eigener Flugplatz, ein Bahnhof, Stellungen für Flugabwehrgeschütze waren auf etwa zehn Hektar in drei Sperrzonen hier einst verteilt. Doch seit Jahrzehnten erobert sich die Natur die Ruinen und den massiven Stahlbeton der Bunker mit bis zu acht Meter dicken Schutzdecken Stück für Stück zurück. Moos überwuchert die mit mäßigem Erfolg gesprengten und zusammengesackten Beton- und Stahlkonstruktionen, Bäume schlagen ihre Wurzeln in die winzigsten Lücken und krallen sich dort fest, Regenwasser wäscht den Kalk aus dem Beton und lässt ihn in langen Tropfen an den Eisenträgern erstarren. 

Ein Bunker für Gäste in der Wolfsschanze. Insgesamt enthielt die schaurige Anlage 47 unterschiedliche Bunker.
Ein Bunker für Gäste in der Wolfsschanze. Insgesamt enthielt die schaurige Anlage 47 unterschiedliche Bunker. © IMAGO/Pond5 Images | IMAGO/xtartezyx

Aber hier haben sie gestanden, gewohnt, gelebt und auch gelacht, die etwa 2000 Soldaten, SS-Kommandos, Arbeiter, Ingenieure. Hier ist Hitler jeden Morgen von 9 bis 10 Uhr mit seinem Hund spazieren gegangen und hat Staatsgäste wie den italienischen Diktator Benito Mussolini empfangen. Im innersten und am besten gesicherten der drei Sperrkreise lebten und arbeiteten seine engsten Vertrauten und mächtigsten NS-Größen mit ihm: der Chef des Oberkommandos Wehrmacht, Wilhelm Keitel, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, sein Privatsekretär, Martin Bormann, der Chef des Wehrmachtsführungsstabes im Oberkommando der Wehrmacht, Alfred Jodl und der Reichspressechef der NSDAP, Dr. Otto Dietrich, teilweise zusammen mit ihren Familien. Hitler selbst hielt sich 800 Tage in der Wolfsschanze auf, länger als in jedem anderen der 20 „Führerhauptquartiere“.  

Jetzt scheint die Sonne. Wir haben unsere Motorradkleidung samt Regenüberzug vollständig anbehalten. Es fühlt sich irgendwie sicherer an. Nicht nur gegen den gerade aufhörenden Nieselregen und die Mücken. Auch gegen die Wucht der NS-Geschichte, die diesen Ort erfüllt.   

Wie benimmt man sich hier? Andächtig? Angeekelt? Interessiert?

Schon kurz nach dem Eingang in die Gedenkstätte trifft sie uns. An einer bemoosten Betonplatte klebt die Zahl 3. Alle Gebäudereste sind nummeriert. Von der Baracke, die einst hier stand, sind nur noch die Grundmauern und der rostige Rahmen einer Tür übrig. Es ist die Baracke, in der Graf Stauffenberg bei einer Lagebesprechung mit Hitler am 20. Juli 1944 mutig die Aktentasche mit einer Bombe abstellte. Hier also. Neben dem Türrahmen ist in gleicher Größe ein Foto von damals aufgezogen. Göring und Bormann treten in schweren Mänteln und mit blank geputzten Stiefeln aus der Tür. So sah es also aus. Wie benimmt man sich hier? Andächtig? Angeekelt? Interessiert?  

Autorin Maike Röttger beim Besuch in der Wolfsschanze: Genau hier stand die Besprechungsbaracke, in der das Attentat vom 20. Juli 1944 verübt wurde.
Autorin Maike Röttger beim Besuch in der Wolfsschanze: Genau hier stand die Besprechungsbaracke, in der das Attentat vom 20. Juli 1944 verübt wurde. © Berndt Röttger

Wie es tatsächlich in dem Kartenraum der Baracke am Tag des Attentats aussah, ist an anderer Stelle der Gedenkstätte originalgetreu nachgebaut worden. Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg war Teil einer Widerstandsgruppe innerhalb der Wehrmacht, die das Attentat und die darauffolgende Machtübernahme (Operation Walküre) vorbereiteten. Am 18. Juli 1944 wurde Stauffenberg für den übernächsten Tag in die Wolfsschanze bestellt, um über die geplante Neuaufstellung von Truppen zu berichten.  

So sah der Besprechungsraum aus, in dem Graf von Stauffenberg das Attentat vom 20. Juli 1944 verübte. Der Raum wurde in einem Gebäude detailgetreu nachgebaut. Hier wird auch erklärt, was damals genau geschah.
So sah der Besprechungsraum aus, in dem Graf von Stauffenberg das Attentat vom 20. Juli 1944 verübte. Der Raum wurde in einem Gebäude detailgetreu nachgebaut. Hier wird auch erklärt, was damals genau geschah. © imago/Panthermedia | Tartezy via imago-images.de

Als wir in der nachgebauten Baracke stehen, werden wir selbst Teil des verhängnisvollen Treffens vor 80 Jahren: Die schwere Aktentasche, in der der Sprengstoff versteckt war, steht neben dem langen Eichentisch. Eine lebensgroße Hitlerfigur sieht angestrengt auf den Tisch und studiert augenscheinlich die Papiere dort. An der Wand hängt eine Europakarte und eine Weltkarte. 24 Personen waren damals in dem Kartenraum, doch heute sind nur die beiden Hauptakteure sichtbar. Eine Stauffenberg-Figur verlässt den Raum. Als er es damals in Wirklichkeit tat, unter dem Vorwand telefonieren zu müssen, war Stauffenberg der festen Überzeugung, dass das Attentat gelungen sei. Er stieg in den Wagen, der ihn wieder zum Flugzeug nach Berlin brachte und sah die dichte Rauchwolke über der Wolfsschanze aufsteigen. Doch die Detonation war nicht heftig genug, um Hitler in Gefahr zu bringen. Eventuell hat der Holztisch die Wucht abgefangen. Die Wucht der Explosion konnte zudem durch die Fenster entweichen, was bei einer Besprechung in einem der Bunker anders gewesen wäre. Dennoch starben vier Anwesende der Lagebesprechung. Noch in der Nacht wurden Stauffenberg und vier seiner Freunde in Berlin hingerichtet.  

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944) verübte am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler.
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944) verübte am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler. © picture alliance / Bildagentur-online | UIG

Wer war Oberst Claus Schenk Graf Stauffenberg?

Claus Schenk Graf Stauffenberg wurde am 15. November 1907 auf Schloss Jettingen im Königreich Bayern als jüngster von vier Kindern geboren. Als Mitglied des katholisch, schwäbischen Uradelsgeschlecht wurde ihm die Militärlaufbahn quasi von Geburt an mitgegeben – sein Urgroßvater war der preußische Heeresreformer August Neidhardt von Gneisenau. Nach seinem Abitur 1926 trat von Stauffenberg als Fahnenjunker in das 17. Bayerische Reiter-Regiment in Bamberg ein. Er gilt als national gesinnter, konservativer Patriot und unterstützte durchaus die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.

Er setzte seine Militär-Karriere im NS-Regime ungebrochen fort, und war an entscheidenden militärischen Planungen wie auch den Angriff auf die Sowjetunion 1941 beteiligt. Sein kritisches Denken wird 1943 deutlich. Als Erster Generalstabsoffizier der 10. Panzerdivison wurde er nach Tunesien versetzt, wo er eine aussichtslose Lage vorfand. Im April wurde er schwer verletzt, verlor den rechten Arm, zwei Finger seiner linken Hand und das linke Auge.

Zurück in Berlin ließ er sich im Herbst 1943 dorthin versetzen und nahm Kontakt zu den hitlerkritischen Offizieren der Wehrmacht auf. Es existierte bereits ein loses Netzwerk des Widerstandes von Wehrmachtsangehörigen, Zivilisten und Politikern. Sie beschäftigten sich mit einer Neuordnung der Gesellschaft und einer zivilen Regierung nach dem Ende des NS-Regimes. Stauffenberg war der Überzeugung, dass nur noch das Militär etwas gegen die Gewaltherrschaft unternehmen konnte, damit aber den Treueid auf Hitler brechen müsste.

„Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird“, wird er zitiert. „Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird.“ Tatsächlich galten Stauffenberg und seine Komplizen lange auch in der Nachkriegszeit noch als Landesverräter. Erst zum 10. Jahrestag des Attentates würdigt sie erstmals der damalige Bundespräsident Theodor Heuss. Der nur 36 Jahre alte von Stauffenberg hinterließ seine Frau Nina und fünf Kinder. Die NS-Regime verschleppte, gedemütigte und enteignete sie.  

„Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird.“

Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg

Es ist wichtig, dass der Attentatsversuch von Graf Stauffenberg in der Wolfsschanze so klar dokumentiert ist. Das mildert die dunkle Macht, die die Betonmassen noch immer ausstrahlen. Seit 1992 erinnert auch eine Gedenktafel aus Bronze an das Attentat. Durch all das gelingt es, die Wolfsschanze als einen Erinnerungsort an den Widerstand gegen das NS-Regime und deren Opfer zu empfinden. Genau diese Erinnerung, die SS-Führer Heinrich Himmler auslöschen wollte. 14 Tage nach dem gescheiterten Attentat sagte er vor den Gauleitern in Posen über die hingerichteten Graf Stauffenberg, General Olbricht, Oberst Merz von Quirnheim und Oberleutnant von Haeften: „Ich habe den Befehl gegeben, dass die Leichen verbrannt und die Asche in die Felder gestreut wurde. Wir wollen von diesen Leuten, auch denen, die noch hingerichtet werden, nicht die geringste Erinnerung in irgendeinem Grabe oder an einer sonstigen Stätte haben.“ 

Doch die Erinnerung lebt – ausgerechnet an diesem Ort, der sonst auch schnell zu einem Grusel-Disneyland oder obskuren Nazi-Wallfahrtsort verkommen könnte. Seit die polnische Forstbehörde das Gelände 2017 von einem privaten Pächter übernahm und mit der Geschichtsaufarbeitung und Restaurierung begann, ist diese Gefahr wohl gebannt. Zwei weitere Ausstellungen erinnern die jährlich mehr als 300.000 Besucherinnen und Besucher ebenso an die Opfer der Judenverfolgung und des Krieges sowie im Besonderen an die Zerstörung der polnischen Hauptstadt Warschau. Diesen Befehl gab Hitler aus der Wolfsschanze heraus.  

Autor Berndt Röttger in der Wolfsschanze: Bunker Nummer 13 war der Bunker Adolf Hitlers.
Autor Berndt Röttger in der Wolfsschanze: Bunker Nummer 13 war der Bunker Adolf Hitlers. © Maike Röttger

Noch vor ein paar Jahren war die Wolfsschanze eher Touristenattraktion als Mahnmal

Das war nicht immer so. Bei einem ersten Besuch 2017 wurde die Wolfsschanze eher als Touristenattraktion präsentiert. Am Eingang warteten gleich mehrere Führer, die ihre Dienste gegen Extra-Bezahlung quasi aufdrängten. Wer dieses Extrageschäft damals erfolgreich abwehren konnte, irrte dafür auch fast informationslos durch die gruselige Bunkerlandschaft. An einigen Bunkern waren Namen aufgemalt: Hitler, Bormann, Göring ... Die Funktion anderer Bunker blieb völlig unklar. Auch was hier im Zweiten Weltkrieg geschah, blieb hinter den meterdicken Betonmauern und dem wuchernden Moos verborgen. Was ist der Ort ohne ausführliche Erklärungen, ohne richtige Einordnung? Ein skurriler Ort – sicherlich. Ein Mahnmal oder eine Gedenkstätte? Kaum. Ja, es gab auch damals eine Tafel, die an das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 erinnerte. Ja, es gab auch eine Tafel, die einmal schilderte, an was für einem Ort man sich hier gerade befindet. Aber heute gibt es so viel mehr. Das Einzige, was damals besser war: Die Wolken waren tiefgrau und es hat in einem fort geregnet. Das einzig passende Wetter für diesen Ort. 

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Aber zurück ins Jetzt: Der angelegte Rundweg führt uns im ehemaligen Sperrkreis 1 an den größten Bunkern vorbei. Nr. 13, fast am Rand des Hochsicherheitsgeländes, war der mit den stärksten Wänden: Hitlers Bunker. Er ist glücklicherweise zusammengefallen, gelbe Schilder warnen vor dem Betreten der Ruine. Es zieht uns auch nichts hier näher rein. Als Hitler die Wolfsschanze am 20. November 1944 mit einem Sonderzug Richtung Berlin verließ, ordnete er in seinem Wahn noch den weiteren Ausbau des Hauptquartiers an, doch die Soldaten begannen angesichts der bevorstehenden Kriegsniederlage die Sprengungen der Bunker vorzubereiten. Zwei Tage lang dauerten die Detonationen Ende Januar 1945, bis die Rote Armee die Wolfsschanze am 27. Januar kampflos besetzte. Die Räumung des 50 bis 150 Meter breiten Minengürtels, der die gesamte Anlage am Boden schützen sollte, dauerte noch bis 1955. Auch den dabei eingesetzten polnischen Soldaten wird heute gedacht.  

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Vom 20. Juli 1944 zu Trump: Die Ethik des Attentats

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